Wie schwierig der Alltag von Menschen mit Behinderung ist
Lenas erster Tag in der neuen Schule sagt vieles zu diesem Thema. Mehrere Jahre lang hat die 16-Jährige – sie sitzt wegen Muskelschwundes im Rollstuhl – zu Hause gelernt. Nun will sie, wie die meisten anderen Heranwachsenden auch, auf dem regulären Weg ihren Schulabschluss machen. Doch dafür muss sie zuvor die Zeit in einer „Anpassungsklasse“ erfolgreich überstehen.
Barrierefreihei gibt es nicht
Offiziell landen dort Kinder und Jugendliche mit geistigen oder psychischen Defiziten. Lenas Fall steht für eine generelle Tabuisierung von Menschen mit jeglicher Form von Beeinträchtigung. Und das in einem Land, wo Kriegskrüppel bis heute das Straßenbild prägen! Auf dem Weg in die Klasse, werden Lena und ihre Mutter von der Schuldirektorin permanent angeblafft, verunsichert und zur Eile angetrieben – nicht zu reden von den fehlenden Rampen für Lenas Rollstuhl. Der Begriff „Barrierefreiheit“ hat hier eine ganz neue Dimension.
Der unfreundliche, wenn nicht widerwillige Empfang ist der Auftakt einer Reihe von Demütigungen, die das ebenso intelligente wie sensible und lebenshungrige Mädchen durchmachen muss. Zumal der abgetrennte Bereich für die „Anpassungsklassen“ schon demütigend genug ist. Hinter einem Eisentor liegen die Klassenräume in einem Gebäudetrakt. Nicht einmal das Klo dürfen die Jugendlichen mit ihren „normalen“ Mitschülern teilen. Lenas Handicap ist besonders sichtbar. Und das empfinden viele in Russland – wie auch in anderen östlichen Transformationsstaaten – als Affront. Noch immer wird eine Behinderung oft als Krankheit wahrgenommen. Umso angreifbarer ist Lena von Anbeginn an.
In Russland leben nach offiziellen Angaben dreizehn Millionen Menschen mit einer Behinderung, das sind neun Prozent der Bevölkerung. Die Regierung hatte 2011 ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um die Gesundheitsversorgung und Förderung zu verbessern, etwa durch die Modernisierung von U-Bahnen oder indem mehr Jobs geschaffen werden. Human Rights Watch lobte die Bemühungen, doch noch immer sind die meisten Menschen mit Behinderung in Russland von der Gesellschaft ausgeschlossen.
Vom öffentlichen Leben ausgeschlossen
All das hatte Regisseur Iwan I. Twerdowski im Hinterkopf, als er „Lenas Klasse“ drehte. Doch für sein Spielfilmdebüt, das auf dem Buch einer russischen Kinderpsychologin basiert, wählte der 28-Jährige einen anderen Fokus, nämlich das Erwachen von Gefühlen und Träumen in Lena und einer kleinen Gruppe von Mitschülern, die sie in ihren Reihen aufgenommen haben – ein Erwachen unter schwierigen Umständen. Gemeinsam ziehen die Kids immer wieder zum Bahndamm, wo sie gefährliche Mutproben veranstalten und sich mit der Polizei kabbeln. Einem der Mitschüler kommt Lena besonders nahe, mit Anton verbindet sie fortan mehr als ein Flirt. Das sieht nicht jeder gerne. Eifersucht macht sich breit. Die Solidarität mit der Neuen schwindet mehr und mehr. Schließlich erntet Lena auch von den meisten ihrer Altersgenossen nichts als Ablehnung. Mit ungeahnten Folgen.
„Lenas Klasse“ erzählt die Geschichte durchweg aus der Perspektive der Protagonistin und der anderen Schüler, und das schon nahezu dokumentarisch. Manche mögen sich daran stören, wenn die verwackelte Handkamera von links nach rechts und wieder zurück schwenkt. Doch dieser Eindruck der Unmittelbarkeit deckt sich gut mit den improvisierten Dialogen (gedreht wurde ohne Drehbuch) und unterstreicht gekonnt all die emotionalen und dramatischen, aber völlig unvorhersehbaren Situationen. Ebenso nuancenreich werden die handelnden Personen porträtiert. Wie eine Gesellschaft die Benachteiligte behandelt, zeigt, in welche Richtung sie sich insgesamt bewegt: Dieser beklemmende Gedanke kommt einem bei diesem packenden Film immer wieder. Insofern ist es erstaunlich, dass diese russisch-deutsche Koproduktion überhaupt zustande gekommen ist.
Info: Lenas Klasse (Klass Korrekzii, Russland/Deutschland 2015), ein Film von Iwan I. Twerdowski, mit Nikita Kukuschin, Philipp Afdejew, Mascha Poeshaewa u.a., 90 Minuten. Jetzt im Kino