Wolf Wagner beginnt mit einer autobiographischen Begründung dafür, dass er politi-siert wurde. Die Erklärung liegt im Elternhaus, das in seinen kleinbürgerlichen Träu-men von der
Naziherrschaft zermalmt wurde. Auch die Generation der Großeltern wird beleuchtet. 1938, das Jahr, in dem Wolf Wagners Eltern heirateten, war bereits Vorkriegszeit. Die Politik war in den Alltag
eingedrungen, "selbst das Grüßen war zur politischen Nagelprobe geworden". Mir erscheinen diese Passagen aus seiner Bio-graphie ergreifend; es scheint zu vermuten, dass jede Politisierung
Schlüsselerleb-nisse braucht - welche können es heute sein?
In den folgenden Kapiteln geht es vornehmlich um idealtypische Gesellschaftsent-würfe und deren Vor- und Nachteile, nämlich die vermeintlich beste aller Gesellschaf-ten, die selbstlose oder
altruistische Gesellschaft oder andererseits die egoistische (entfesselte, man könnte sagen: darwinistische) Marktgesellschaft. Das scheinbar fast kindlich harmlose, nicht zuletzt in den neuen
Bundesländern stark verbreitete Sehnen nach einer harmonischen, organischen Gesellschaft der Altruisten, mutiert regelmäßig, so Wolf Wagner, nach allen gescheiterten Versuchen, sie zu etablieren,
in eine krude Diktatur der Eliten, "unfähig die Veränderung der Wirklichkeit wahrzu-nehmen, und unten ein geplagtes Volk, das gelernt hat zu lügen und sich selbständig durchzuwurschteln" (S. 25).
Darin kann man recht unschwer die DDR in ihren "bes-ten" Zeiten erkennen. Der zweite Entwurf, die ungebremst egoistische Gesellschaft (wäre dieser Begriff vielleicht besser durch ungebremste
Marktwirtschaft oder neoli-beraler Gesellschaftsentwurf zu ersetzen?) kommt bei Wagner etwas besser weg. Die egoistische Gesellschaft hat bei allen Risiken dem altruistischen Entwurf voraus, dass
sie multistabil ist, d.h., selbst wenn große Teile von ihr untergehen, ist ihr Be-stand immerhin nicht gefährdet.
Wolf Wagners Buch ist ein Plädoyer für die Pluralität in der Zielbestimmung und die relative Eignung von Lösungskonzepten. Der politische Prozess ist multikausal, es wimmelt von nicht
beabsichtigten Nebenfolgen politischer Initiativen und Gesetze, so dass gilt: "Die Probleme von heute sind meist die Folgen der Lösungen von gestern" (S. 49). Entgegen der Planbarkeitshoffnungen
der 70er, die insbesondere die Sozial-demokratie beflügelt haben, ist Politik "kein souveränes Planen nach vernünftiger Einsicht" (S. 50), sondern ein Handeln nach Versuch und Irrtum unter den
Bedingun-gen von Komplexität und Intransparenz.
Kapitel fünf behandelt den Unterschied zwischen symbolischer und praktischer Poli-tik. Wagner fügt Ebenen und Bruchstücke der Politik zueinander, die für sich alleine genommen keinen Sinn
machen und gar Verzweiflung auslösen mögen. Es geht um die großen Gesten der Politik, ihre alle in den Bann schlagenden Rituale, ihre Zäsu-ren und ihre vermeintlichen Richtungsentscheidungen
einerseits (von Wolf Wagner als symbolische Politik bezeichnet) und andererseits die hochwichtige, vergleichs-weise unbeachtete Ebene der praktizierten Politik, die sich anschließend in
Detail-verordnungen, aber auch praktischen Kompromissen und alltagsnahen Lösungsvor-schlägen jenseits von Parteigrenzen wiederfindet. Beides steht in einem Ergän-zungszusammenhang: Während mit den
Details einer Abwassergesetzgebung nur in Ausnahmefällen - wie im vorletzten Sommer in Thüringen - Massen zu mobilisieren sind, gelingt dieses mit den symbolischen Gesten, die punktuell auch das
Interesse jener 80 Prozent von Bürgern erreichen, die sich im Grundsatz für Politik nicht inte-ressieren.
Wagner plädiert dafür, sich im Namen von Zivilcourage für das einzusetzen, was man für richtig und wichtig hält - und dieses zusammen mit anderen. Die Möglichkeit, sich in einer politischen
Partei zu engagieren, die nur drei Prozent der Wahlberech-tigten in Deutschland ergreifen, wird von ihm als eine relativ effektive Möglichkeit ge-würdigt , das eigene politische Gewicht zu
potenzieren.
Das Buch verdeutlicht, dass es jenseits institutioneller Einzelfragen wie der föderalen Ordnung oder auch der Gestaltung des Steuersystems einer geistig emotionalen Hal-tung und Kompetenz der
Bürgerinnen und Bürger - oder zumindest eines größeren Teils von ihnen bedarf, damit sich der demokratische Prozess in seiner Komplexität, Ambivalenz und Unvollkommenheit, eben doch erfüllen kann.
Indem Wolf Wagner Unzulänglichkeiten, ja Bizzarien des Politikbetriebes keineswegs ausspart, sondern sie erklärt, versöhnt das Buch auf der Basis einer kritischen Sichtung der Realitäten und wirbt
mit einem realistischen Humanismus für Demokratie und Parlamentarismus - das Buch selbst zeigt, dass Nüchternheit und Spannung durchaus Hand in Hand gehen können.
Eckhard Giese, giese@fh-erfurt.de
Wolf Wagner: Wie Politik funktioniert, dtv, München 2005, 126 Seiten, 6,50 Euro, ISBN 3-423-34163-7
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