"Wie hoch der Einsatz auf die eigene Erinnerung sein darf"
Aleksandar beherzigt den großväterlichen Rat. Er macht die Geschichten seiner
Kindheit am Fluss Drina für den Leser nacherlebbar. Beschreibt märchenhafte
Erntedankfeste bei seinen Großeltern und unglaubliche Erlebnisse der
Nachbarn in Vi_egrad. Aleksandar erfindet die Welt um sich herum.
Diesen phantasievollen Blick auf die Welt behält er auch bei, als der Krieg
ausbricht. Der Einfluss des geliebten Großvaters bleibt zentral. Die Geschichten
helfen und bieten Rückzugsraum wenn die Realität zu erschreckend wird. Etwa
wenn Aleksandar erkennen muss, dass Bosnier und Serben in Vi_egrad nicht
mehr friedlich miteinander leben können. Die ethnische Zugehörigkeit, die bis
dahin kein Thema war, spielt plötzlich eine große Rolle. Auf dem Schulhof gibt
es Gespräche darüber, ob das serbische Blut seines Vaters in Aleksanders
Körper stärker ist als das bosnische seiner Mutter. Aleksandar ist irritiert, wäre
dann gerne "etwas Eindeutigeres oder etwas Erfundenes."
Der Zerfall Jugoslawiens trifft den jungen Helden des Romans ganz unmittelbar:
"Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe - ich zerfalle also."
Der Krieg zwingt die Familie schließlich zu fliehen - zunächst nach Belgrad,
dann nach Deutschland. Hier lebt sie vorerst bei Verwandten in Essen. "Wir
schlafen alle in diesem kleinen Zimmer und sind alle eine Spur wütender als zu
Hause, auch in den Träumen." Trotzdem setzt Aleksandar alles daran sich in
Deutschland zu Recht zu finden. Er lernt ganze Wörterbuchseiten auswendig -
ein Geschichtenerzähler kann nicht stumm sein. Und seine Geschichten und
seine Phantasie helfen auch hier. So schreibt er zum Schulaufsatzthema
"Essen, ich habe dich gerne" wie man Börek macht. Wohl wissend, dass er
eigentlich über die Stadt Essen schreiben sollte. "Ich wusste das, aber da ich an
der Stadt Essen gar nichts gerne habe, schrieb ich eben über das Hackfleisch
und den Yufka-Teig."
Das Erinnern wird zentral in dem fremden Land. "Wenn man mich fragt, woher
ich komme, sage ich, das sei eine schwierige Frage, weil ich aus einem Land
komme, das es dort, wo ich gelebt habe, nicht mehr gibt. Hier nennt man uns
Jugos, auch die Ungarn oder die Bulgaren nennt man Jugos, das ist einfacher
für alle." Stani_ics Roman gibt Einblick was es bedeutet wenn der Krieg eine
Kindheit und ein Leben an einem Ort abrupt beendet. "Es kommt mir vor, als
wäre ein Aleksandar in Vi_egrad geblieben, und ein anderer Aleksandar lebt in
Essen und überlegt sich, doch mal an die Ruhr angeln zu gehen. In Vi_egrad …
gibt es einen angefangenen und nicht zu Ende gebrachten Aleksandar."
Auch mit dem Frieden scheint ein Zurück nach Bosnien nicht möglich. "Ich
möchte aber nicht in die Stadt zurück, aus der man alle vertrieben hat." Auch die
Eltern wollen das nicht. "Eher krepiere ich, als den Mördern in die Augen zu
sehen", erklärt die Mutter. So emigrieren sie in die USA, während Aleksandar in
Deutschland bleibt um sein Abitur zu machen.
Zehn Jahre nach der Flucht aus der Heimat fährt Aleksandar zum ersten Mal
zurück nach Vi_egrad. Er hat Listen geschrieben um seine Erinnerung mit der
Gegenwart zu vergleichen. "Freunde, seitenweise Namen, seitenweise
Spitznamen, Listen über Listen, Wetten auf die Erinnerung. Ich habe Listen
gemacht und jetzt muss ich alles sehen." Aber alles hat sich verändert - die
Listen sind nicht deckungsgleich mit der Gegenwart. Es gibt kein Zurück. Die
Heimatstadt wie Aleksandar sie kennt, existiert es nur noch in seiner
Erinnerung.
Die Geschichten von Aleksandar finden ihre Entsprechung in der wunderbar
originellen Sprache Sa_a Stani_ics.. Es gibt keine Plattitüden in seiner Sprache,
so wie in seinem Roman keine Klischees - dafür höchst phantasievolle
Sprachbilder en gros. Stani_ic hat ein absolut gelungenes und lesenswertes
Buch über Krieg, Emigration und Erinnerung geschrieben. Einzig die Tatsache,
dass der fast erwachsene Aleksandar zehn Jahre nach der Flucht noch dieselbe
kindliche Sicht- und Erzählweise hat, irritiert ein wenig. Dennoch: Ein
wunderbares Buch.
Sa_a Stani_ic: Wie der Soldat das Grammofon repariert. Luchterhand
Literaturverlag. München. 2006. 315 Seiten. € 19,95
Birgit Güll