Kultur

Wie die Nationalsozialisten die Macht im „roten Berlin“ eroberten

von Jörg Hafkemeyer · 29. Januar 2013

Was für ein spannendes Buch! „Berlin 1933 – 1945“ von Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller. Die beiden Autoren erzählen die Geschichte, wie die Nationalsozialisten die Macht im „roten Berlin“ erobert und durchgesetzt haben.

Wie große Teile der Stadtbevölkerung ausgegrenzt wurden. Wie der Krieg, die Beschießungen und Luftangriffe, die Zwangsarbeit sich auf das Leben in der Stadt auswirkten. Es ist zum Teil richtig packend geschrieben und eine ziemlich einmalige Veröffentlichung.

Wo anfangen? Ich will ein Beispiel herausgreifen, eines, welches belegt, wie nachdrücklich, wie berührend dieses Buch ist: Das Kapitel mit der Überschrift „Die Verfolgung der Juden und die Reaktionen der Berliner“.

Berufsverbot für jüdische Ärzte und Anwälte
In der Hauptstadt lebten zu jener Zeit – 1933 – ein Drittel aller deutschen Juden, 160 000 von 4,2 Millionen Bewohnern. Ihre Verfolgung beginntunmittelbar nach der Machtergreifung: „Der neu ernannte Stadtkommissar für Berlin, Dr. Julius Lippert, und die Stadtverwaltung ordneten beispielsweise umgehend an, dass jüdische Ärzte und Anwälte nicht mehr für die Stadt tätig sein durften, ebenso jüdische Firmen.“

Dieses Kapitel gibt jedem Interessierten einen guten Einblick, was zwischen 1933 und 1945 geschehen ist. Jüdische Kinder werden von den Schulen verdrängt. Manche Eltern versuchen, sich zu wehren, zu protestieren. Vergeblich. Sie werden bedroht, nehmen sich das Leben. Jüdische Geschäfte und Synagogen werden beschmiert.

Im Mai 1934 werden zunächst in Schöneberg dann in anderen Stadtteilen Geschäfte mit der Aufschrift Jude beschmiert. In Tegel und Lichtenberg kommt es zu Menschenaufläufen. Die Polizei nimmt die jüdischen Geschäftsinhaber in Schutzhaft. Fensterscheiben werden eingeworfen: „Die Ausschreitungen erreichen in Höhepunkt Mitte Juni 1938. Menschen versammeln sich in der Frankfurter Allee und am Alexanderplatz, wo sie jetzt sogar am helllichten Tag Schaufenster beschmierten, da NSDAP-Ortsgruppen eine einheitliche  Kennzeichnung jüdischer Geschäfte gefordert hatten.“

Und die übrige Bevölkerung?
Offen wird noch auf den Straßen über diese Gewaltaktionen diskutiert. Abends in den Kneipen auch: „So erklärte etwa in Kreuzberg der parteilose Walter Apelt: „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Gestern erst habe ich in der Frankfurter Allee einem Hitlerjungen, der mit dem Beschmieren von jüdischen Geschäften beschäftigt war, in die Schnauze geschlagen.“

Doch die große Mehrheit leistet keinen Widerstand, schaut weg oder plündert und zwar massiv. In der Frankfurter Allee suchen am Morgen nach den Anschlägen auf das Geschäft von Kurt Levy hunderte nach Schuhen. Jungen tragen die Beute „von der Judenaktion“ mit in die Schulen, in den Unterricht.

„Berlin 1933 – 1945“ ist zum 80. Jahrestag der Machtergreifung durch Adolf Hitler eine sehr wichtige Publikation. Nicht abgehoben, nicht sehr theoretisch, gar nicht schlecht geschrieben: Es beantwortet die von vielen Eltern und Großeltern nie beantwortete Frage, was passiert ist und durch wen.

 

Michael Wildt (Hrsg.), Christoph Kreutzmüller (Hrsg.)

Berlin 1933-1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus

Siedler-Verlag 2013, 496 Seiten, Euro 24,99

ISBN: 978-3-8275-0016-8


 


 

Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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