Von Sebastian Henneke
"Überschätzt China nicht, Indien wird die Weltmacht von morgen." Das sagt Olaf Ihlau, renommierter deutscher Journalist und Experte des Subkontinents. Detailreich und spannend präsentiert der
langjährige Indienkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in seinem Buch "Weltmacht Indien" das angehende globale Schwergewicht Asiens.
War Indien bisher als armes Land mit reicher kulinarischer und spiritueller Bandbreite bekannt, so stellt Ihlau - nicht als Erster aber im umfassenderen Sinn - das Land als neue ökonomische,
demographische und kulturelle Macht vor. Seine Grundthese "Die Inder kommen, gegen sie läuft in Zukunft nichts mehr" belegt der Autor faktenreich an Hand einzelner Schicksale.
Seit der Unabhängigkeit 1947 ist die Bevölkerung von 350 Millionen Einwohnern auf mehr als 1,1 Milliarden angestiegen. Demographische Vorhersagen sehen Indien Mitte dieses Jahrhunderts mit
1,6 Milliarden Menschen als größtes Land der Welt vor China. "Der Elefant überholt den Drachen", schreibt Ihlau. Die Wirtschaft erziele seit der eingeleiteten Liberalisierung Anfang der 90er Jahre
Wachstumsraten von acht Prozent. Der rasante Wandel führe aber auch zu einem noch größeren Ungleichgewicht zwischen arm und reich. Während der drittreichste Mensch der Welt, der indische Stahlbaron
"Lakshmi Mittal", in jeder Sekunde 36.000 Dollar verdient, leben 300 Millionen seiner Landsleute unterhalb der Armutsgrenze, so Ihlau. Eine Konstellation mit verheerendem Potential!
In den ersten Kapiteln dokumentiert der Autor die drastische Teilung des Landes an Hand der Schicksale des indischen Softwareunternehmers "Azim Premji" und des rechtlosen Parias "Chandra
Mandi". Gesellschaftlich immer noch dem apartheitsähnlichen Kastensystem verhaftet, gelingt es nur wenigen Indern diese Schranken zu überwinden. Dennoch besitzt Indien neben Japan die meisten
Milliardäre Asiens. "Die Parvenüs prassen bis zum Exzess, veranstalten Hochzeiten mit vulgärem Geprange", urteilt der Autor über diese Aufsteiger des indischen Wirtschaftswunders. Die Mittelklasse
vergnüge sich im Einkaufscenter und die nachrückende "Sonnenschein-Generation" stehe "frisch, kreativ, grenzenlos optimistisch und lebenslustig" bereit, Indien nach außen zu repräsentieren.
Bei aller Begeisterung für die wirtschaftliche Kraft des Landes, ist Ihlau darauf bedacht, auch die Kehrseite des Fortschritts zu benennen. Ein Großteil der Menschen müsse ohne
arbeitsrechtliche Absicherung auskommen. Der Druck auf die Jugend, einen guten Studien- und Arbeitsplatz zu erlangen, sei so enorm, dass die Zahl der psychischen Störungen und Selbstmorde stark
steigt. Die Infrastrukur hänge dem Aufschwung mehrere Jahrzehnte hinterher und das brutale Kastenwesen sichere vor allem auf dem Land die tradierte Ordnung ab. Es gebe Korruption, familiäre Gewalt,
mafiöse Strukturen, brutale religiöse Rituale, von denen Ihlau die Witwenverbrennung explizit beschreibt. Im Kapitel "Vergiftete Seelen, düstere Rituale" stellt der Autor die ungeschönte
Wirklichkeit jenseits der grellen Großstadtbezirke dar.
Ihlau ist es gelungen, ein spannendes und lehrreiches Buch über die Ambivalenz des aufstrebenden Subkontinents zu schreiben. Auf Europa bezogen heißt es im letzten Satz des Buches: "Oder es
wird in der Sturmflut der neuen Weltmächte China und Indien untergehen." Schade, dass das, bis zum letzten Kapitel, über weite Strecken spannende und interessante Buch, sich mit seinem Resümee in
die Ahnengalerie älterer Werke einreiht. Diese haben bereits in den 80er Jahren Japan und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends, China als Bedrohung für Europa und die westliche Welt
identifiziert.
Ihlau, Olaf (2006): Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens. Siedler Verlag. 209 Seiten. 19,90 Euro. ISBN 3-88680-851-3
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