World Press Photo Award 2012: Im Berliner Willy-Brandt-Haus sind die besten Pressefotos des vergangenen Jahres zu sehen. 158 Arbeiten von 57 ausgezeichneten Fotografen laden bis zum 30. Juni zu einer Reise an unbekannte Orte ein und erinnern an Umbrüche und Katastrophen des letzten Jahres.
Eine Mutter hält ihren verwundeten Sohn im Arm. Die Frau ist verschleiert, nur vor ihren Augen ist ein schmaler Schlitz in dem schwarzen Stoff. Mit weiß behandschuhten Händen drückt sie den unbekleideten Mann, ihr Kind, an sich. Sein Kopf liegt auf ihrer Schulter, sein Gesicht bleibt dem Betrachter verborgen. Samuel Aranda hat diese Szene letzten Herbst im Jemen fotografiert, in einer Moschee in der Hauptstadt Sanaa, die während der blutigen Proteste gegen Präsident Abdullah Salih als Lazarett genutzt wird. Das Bild des spanischen Fotografen ist mit dem „World Press Photo Award 2012“ ausgezeichnet.
Der Umbruch und seine Toten
Das Foto steht für die Umbrüche im arabischen Raum. „Für das, was wir euphemistisch den ‚Arabischen Frühling’ nennen“, sagt Gernot Erler. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion spricht zur Eröffnung der Foto-Ausstellung in Berlin, am 6. Juni, über die ikonenhafte Qualität von Arandas Foto. Der Betrachter verortet es ohne weitere Erklärung im arabischen Raum – die Aufstände, die Umbrüche, die vielen Toten – von all dem erzählt es.
Der junge Mann auf dem Foto hat überlebt. Wieviele beim Drängen auf den Rückzug von Abdullah Salih im Jemen gestorben sind ist unbekannt. Der Sturz des ägyptischen Staatsführers Husni Mubarak habe 846 Menschen das Leben gekostet, sagt Erler. In Syrien sei inzwischen von 11.000 Menschen auszugehen, die im Kampf gegen den Machthaber Bashar al-Assad getötet wurden. Ein Ende der Gewalt ist noch immer nicht in Sicht.
Von Fukushima bis Breivik
Der jemenitische Musiker Ahmed Saeed Asery, der zur Ausstellungseröffnung ins Willy-Brandt-Haus gekommen ist, hofft auf baldigen Frieden in seiner Heimat. Er will mit seiner Musik dafür sorgen, dass die Verhältnisse im Jemen besser werden. Seine Songs versteht er als Beitrag zur Änderung der Gesellschaft – nach dem politischen Machtwechsel gehe es um eine mentale Revolution, sagt Asery. Der 26-jährige engagiert sich für das Aufbrechen der konservativen Gesellschaft. Er wirbt mit seiner Band „3 Meters Away“ für Offenheit und Frieden.
Die Ausstellung, die schon zum neunten Mal im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen ist, ruft auch andere nachrichtliche Ereignisse in Erinnerung – vom Reaktor-Unglück in Fukushima bis zu den Anschlägen des norwegischen Terroristen Anders Behring Breivik. Doch die insgesamt 158 Arbeiten aus 24 verschiedenen Kategorien behandeln nicht alle Katastrophen von weltgeschichtlicher Dimension. Alejandro Kirchuks Arbeit „Never Let You Go“ erzählt von Marcos, der seine alzheimerkranke Frau Monica pflegt. 65 Jahre waren sie verheiratet, letzten Juli ist Monica gestorben.
Ein Stück Welt
Guillaume Herbot zeigt die Ukrainerin Inna Shevchenko, die als Kopf der Gruppe Femen mit nacktem Oberkörper für Frauenrechte kämpft. Der kanadische Pressefotograf Donald Weber nimmt den Betrachter mit in ukrainische Verhörräume. John Moore hat Familien in den USA fotografiert, die ihre Häuser verlassen müssen, weil sie die Kreditraten nicht mehr zahlen können. 2011 waren es gut vier Millionen Familien, die binnen 24 Stunden ihr Heim räumen mussten.
Jede Fotoserie zeigt einen Ausschnitt der Welt. Manch einer ist unbekannt, andere sind erschreckend vertraut, wie die Insel Utoya, auf der Breivik letzten Sommer 69 Menschen tötete. Traurige, schöne, kuriose und schwer erträgliche Bilder – im Berliner Willy-Brandt-Haus sind sie noch bis zum 30. Juni 2012 zu sehen.
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.