Kultur

Weißt du, wo Odessa liegt?

von Matthias Dohmen · 12. Juni 2014

Zehn Geschichten vereint der Band „Zwischen Menschen“ („Problems with People“) des US-amerikanischen Erzählers, der 1994 gleich mit seinem ersten Roman „Schnee, der auf Zedern fällt“ weltberühmt wurde. Durchgängig melancholisch-bitter und manchmal heiter-besinnlich sind die Prosastücke im aktuellen Band.

Zehn Erzählungen sind es, und „Paradise“ ist eine der schönsten: Bei dem Odessa, von dem hier die Rede ist, handelt es sich nicht um die bekannte ukrainische Stadt, sondern um ein Kaff in Amerika, in dem Deutsche leben, „die nach Russland auswanderten, aber dann hierherkamen“. Ein nicht mehr sehr junges Paar, das sich über das Internet kennen gelernt hat, trifft sich zum ersten Date, doch die Frau erinnert sich intensiv an ihre erste große Liebe. Sie war noch fast ein Kind und ihr Freund kam auf tragische Weise ums Leben.

Mitten im Leben, am Rand der Gesellschaft

Guterson erzählt uns von Menschen, die mitten im Leben stehen und doch merkwürdige Randexistenzen darstellen. Da ist jener alte Mann in „Still“, der vereinsamt stirbt und letzte intensive Begegnungen mit einer Hundesitterin hat, die sich fragt: „Der Mond war kartographiert, die Voyager-Sonde hatte den Neptun passiert, Robert Ballard war zur Titanic hinabgetaucht, aber woran dachte Lou in diesem Moment, während er im Sterben lag?“

Hinter der Erzählung, die den Titel „Schatten“ trägt, verbirgt sich die Geschichte eines älteren Demenzkranken, der sich auf einem Flughafen nicht mehr zurechtfindet und deshalb die Reise zu seinem eigenbrötlerischen Sohn, der sich nach langer Zeit wieder gemeldet hat, abbrechen muss.

Ein alter Mann auf seiner letzten Reise

Die letzte Erzählung spielt in Berlin: „Sie waren auf dem Weg nach Deutschland, damit sein Vater das alte Jüdische Viertel in Berlin besuchen konnte, wo er bis zum Alter von sechs Jahren gelebt hatte.“ Sie sehen den Kurfürstendamm, Museen und die Villa am Wannsee, in der 1942 fünfzehn Deutsche die „Endlösung“ besprachen. Die Reiseführerin identifiziert der grantige alte Mann als „Krasawize“. „So haben wir früher zu den bildhübschen Jüdinnen gesagt, zu den richtigen Klassefrauen. Unsere Reiseführerin in Berlin war eine Krasawize! Eine Jüdin hat uns Berlin gezeigt!“

In den kleinen Begegnungen des Alltags, heißt es im Klappentext, beweise der Autor seine psychologische Meisterschaft. Voilà.

David Guterson: „Zwischen Menschen. Erzählungen“, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, 208 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3-455-40481-4

Autor*in
Matthias Dohmen

Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.

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