Kultur

„Was wohl aus ihr geworden wäre?“

von Matthias Dohmen · 19. März 2014

Wie überlebt eine Jüdin die Jahre 1940 bis 1945 in Berlin? Marie Jalowicz Simon taucht als Zwanzigjährige unter, wird zumeist von Kommunisten beherbergt. Nach der Befreiung bleibt sie in Berlin und lehrt an der Humboldt-Universität Antike Literatur- und Kulturgeschichte. In dem Buch „Untergetaucht“ erinnert sie sich.

Kurz vor ihrem Tod bittet ihr Sohn Marie Jalowicz Simon, die Geschichte ihres Überlebens auf Tonband zu sprechen. Er, Hermann Simon, ist Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berli, des Centrum Judaicum. Seine Mutter stirbt 1998. Auf Grundlage der Tonbänder veröffentlicht Hermann Simon gemeinsam mit der Autorin Irene Stratenwerth 2014 das Buch „Untergetaucht“.

Vielleicht sind es die vielen Jahre, die vergangen sind seit dem nationalsozialistischen Massenmord an den Juden, die es Marie Jalowicz Simon ermöglichen, ihr Schicksal sachlich wie in einer Chronik darzustellen. Sie berichtet, wie das Verhängnis der deutschen Juden seinen Lauf nahm und das große beständige Unrecht letztlich zur systematischen Vernichtung gesteigert wurde.

„Es wird nicht mit mir geschehen“

Die Schilderung ist ähnlich eindringlich, wie es die Notizen Victor Klemperers sind, auch wenn Jalowicz Simon erst 50 Jahre nach dem Morden Tonbänder bespricht. Sie erinnert sich an Freundinnen, da ist zum Beispiel Nora: „Ich musste, wenn ich sie ansah, immer an Rubens denken. Vielleicht wäre sie auch mal eine sehr dicke Frau geworden. Sie hat es nicht erlebt“, so Simon. Das Dienstmädchen Ruth Hirsch: „Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie überlebt hätte?“

Jalowicz Simon kann die Passivität ihrer Umgebung nicht ertragen, die Witze reißt, wo Widerstand nötig wäre: „Mich überwältigte der Ekel, In diesem Moment stand meine Entscheidung fest: Was auch immer mit diesen Leuten geschehen würde, es würde nicht mit mir geschehen. Ich würde nicht mitgehen.“ Auch wenn sie gegen die „Sprüche der Väter“ verstößt, die von den Gläubigen fordern, „sich nicht von der Gemeinschaft abzusondern“.

Eintritt in die KPD

Der jungen Marie imponieren die Kommunisten, die sich bewusst den Nazis entgegenstellen, auch wenn ihre Widerstandsaktionen mitunter – so erlebt sie es – „den Charakter eines großen, aber völlig ineffektiven Spiels“ annahmen, „dessen wahre Bedeutung darin lag, die Moral ihrer Teilnehmer aufrechtzuerhalten“. Dennoch: Deren Einsatz erscheint ihr vorbildlich, und Marie Jalowicz selbst schließt sich nach dem Krieg der KPD und dann der SED an.

Sie findet Unterschlupf im Artistenmilieu, lebt zeitweise mit einem niederländischen Fremdarbeiter zusammen. Sie kommt zu den Arneckes, wo die Mutter Marie Jalowicz schnell zum Familienmitglied erklärt. „Mich beeindruckte das sehr. Ich notierte in mein unsichtbares Tagebuch in Großbuchstaben, die ich mehrfach unterstrich: Kommunistische Clan-Adoption im Kriegsjahr 1943““, so Jalowicz.

Der 20. Juli 1944

Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 war für sie kein Opfer dieser Art. In ihren Augen war es gut, dass das Attentat scheiterte: „Die Offiziere, die dieses Attentat geplant hatten, hatten Hitler nie übelgenommen, dass er den Krieg begonnen hatte; sie nahmen ihm jetzt nur übel, dass er ihn verlor … Deutschland sollte vollständig besiegt werden, die Russen und die anderen Alliierten sollten einmarschieren, in Berlin musste die rote Fahne wehen.“

Auch nach dem Krieg bleibt Berlin ihre Heimat. Einem früheren Schulfreund, der nach Israel ausgewandert ist, schreibt sie am 29. Januar 1946: „Glaubst Du, dass der Pöbel irgendwo auf der Welt, wenn man seine niedrigsten Instinkte künstlich gefördert hätte, sich anders als der deutsche Pöbel verhalten hätte? Deutsche haben Millionen Juden ermordet. Deutsche Menschen waren es aber auch, die, ihr Leben aufs Spiel setzend, große Opfer gebracht haben, um mir durchzuhelfen.“

In einem Nachwort zeichnet Hermann Simon die Lebensgeschichte seiner Mutter und das Zustandekommen des Buches nach. Schade: Das nicht ganz vollständige Personenverzeichnis verweist leider nicht auf einzelne Seiten. Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Dokument des Überlebenswillens einer Frau, die manche Erniedrigung über sich ergehen lassen musste, um zu überleben.

Marie Jalowicz Simon: „Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945“, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, 416 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-10-036721-1

 

Autor*in
Matthias Dohmen

Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.

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