Kultur

Was liegen bleibt

von Die Redaktion · 1. August 2005
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Als am NRW-Wahlabend die Vertrauensfrage angekündigt wurde, erstarrte die verblüffte Fernsehnation, und die Gralshüterinnen der Talk-Shows strichen ihre Sommerpausen.

Was für ein Coup. Die Medien spekulierten über Namen, Teams und Demoskopien. Das frische Lächeln der Kandidatin notierte an den Börsen. Das eilige Flickwerk vorläufiger Programme, soweit es aus den Hintergrundgesprächen kenntlich wurde, nahm sich aus wie eine Blaupause des Regierungsprogramms. Ehrgeizigere Ziele, deren Gegenfinanzierung unklar blieb, zogen den hässlichen Begriff des Einschnitts nach sich. Ausgerechnet die heiligen Kühe, die die Opposition in nächtelangem Ringen im Vermittlungsausschuss geschont hatte, standen plötzlich zur Disposition. Der geneigte Wähler hatte ein Déjà-vu. Alles schon so oft gehört und nie erreicht in diesem Blockadeclub, der das Land seit Jahren martert.

Der Wähler aber ist ein launisches Tier. Diesmal hatte sich der Kanzler selbst in Frage gestellt. Diesmal lachte eine Gegenkandidatin. Die Umfragen zeigten Bewegung im Karton, weil die tägliche Soap der Deutschlanddämmerungs- Sendungen ein neues Casting ausgeschrieben hatte. Die apokalyptische Berichterstattung, die hinreißende Inszenierung des Boulevardhits STANDORT DEUTSCHLAND, die Warteschleife der Reform - möglicherweise bald in neuer Besetzung, mit einer anderen Inszenierung?

Mittlerweile haben wir zaghafte Ergebnisse. Aus NRW hören wir, wie schwierig es wird mit den von Rüttgers versprochenen viertausend Lehrern, aus Bayern tönt es, dass Zuwanderung Zumutung ist. Das sind überraschende Erkenntnisse angesichts der Tatsache, dass führende Ökonomen uns vorrechnen, dass der eigentliche Hoffnungsschimmer angesichts der demografischen Veränderung Bildung, Technologie, Wissenschaft - und Zuwanderung sind.

Zu den Dingen, die nun liegen bleiben könnten, gehört das Prinzip der Nachhaltigkeit. Jahrelange Diskussionen über Windmühlen, und jetzt, da lohnende Offshore-Windkraftwerke entstehen (mit deutscher Technologie, versteht sich), da die Magnetschwebebahn sich als Exportartikel durchsetzen könnte, sollen wir die Uhr zurückdrehen, zu riskanter Kernkraft?

In den Talkshows über Monate das unerträgliche Gequengel. Der Mensch ist zu teuer: als Arbeiter, als Rentner, als Faktor im Gesundheitswesen. Wollen wir darauf reagieren mit Billigjobs und Jackpots für Startups? Man war schon mal weiter. Warum, fragt sich der gesunde Menschenverstand, sollte man angesichts der unvorstellbaren Verschuldung der Amerikaner ausgerechnet von deren System abschreiben und unsere Arbeitslosenstatistik durch so putzige Jobs wie Aschenbecher-Leerer oder Einparker schönen?

Absehbar bleibt, dass Arbeitsvermittlung die Situation optimieren kann und muss. Langfristig aber müssen die Parteien ins Auge fassen, dass der Wunsch nach der guten, alten Vollbeschäftigung sich nicht absehbar erfüllen oder herbeibeten lässt. Viel mutiger, als es der Tunnelblick auf Beschäftigungsschranken zulässt, wäre der Blick in die entgegengesetzte Richtung: Was, wenn mittelfristig das Umverteilungsmodell Arbeit gestützt werden müsste durch ein Parallelmodell der Bürgersicherung? Heute, im gerade losgetretenen Wahlkampf, der sich voll und ganz der Arbeit widmet, scheint das so unvorstellbar, wie es Ökosteuer und heutige Spritpreise noch vor wenigen Jahren waren. Aber die Erfahrung lehrt, dass das Liegenlassen dieser Themen der teuerste Fehler überhaupt ist.

Die Auseinandersetzungen in Brüssel haben ein eindrucksvolles Bild davon gezeichnet, wie weit man da- mit kommt, wenn man alles und jedes mit der nationalen Renditebrille sieht und vertritt. Menschenrechte, Friedenspolitik, Umweltstandards, alles nachrangig angesichts der Pendlerpauschale? Das europäische Projekt kann und will mehr. Wenn eine Milliarde Chinesen umsteigen vom Fahrrad aufs Auto, dann ist es nicht ganz unwesentlich, womit dieses Auto angetrieben wird und wie viel Dreck es macht. Wenn Polschmelze und Treibhauseffekt so signifikant mit den Stickoxiden aus Verschwendung herrühren, dann könnte ein bisschen Druck auf die Unterzeichnung des Kyoto- Protokolls nicht schaden. Eben waren wir noch die Schrittmacher im Umweltschutz, jetzt sind wir - was? Der Globus, ein Luxusthema?

Die Außenpolitik der deutschen Bundesregierung war in den letzten Jahren eigenständig, einflussreich und authentisch. Sie hat sich als enorm leistungsstark erwiesen in Krisenregionen und Katastrophengebieten. Niemand hat sich effektiver in die Tsunami-Hilfe einbringen können als Deutschland. Wollen wir diese Themen liegen lassen, weil Wahlkampf herrscht,weil wir über Bierdeckelreformen reden müssen?

Eine Abkühlung geht durch den Blätterwald. Die bange Frage kommt auf, was von den begonnenen Arbeiten der rot-grünen Regierung Bestand hätte, falls die lächelnde Kandidatin das Rennen macht. Hätte eine unionsgeführte Regierung in Washington eine Eigenständigkeit? Würde sie, mit den Eurokritikern in ihrer Mitte, eine ehrgeizige Europapolitik und eine behutsame Annäherung an China fortsetzen? Oder steht nicht genau das Gegenteil auf einem anderen Bierdeckel: sich wieder bedingungslos in die US-Gefolgschaft einzureihen, den Ball flach zu halten. Die Bildungschancen von Banken finanzieren zu lassen.

Die Bilanz der derzeitigen Regierung ist zwiespältig, aber voller Chancen. In jedem Fall aber zeigt sie die Zukunftsfähigkeit auf, die das Land braucht - vom Sitz im UN-Sicherheitsrat, von der Rolle in der EU, bis zum Exportweltmeister. In der Herausforderung der Globalisierung hat sie das Eigene gewahrt, das Neue ins Land gelassen. Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen ist die Kulturpolitik, die in aller Welt geachtet wird. In einem Land, das zu wenig Bodenschätze besitzt, ist die Frage nach Inhalten prioritär.

Was auf dem Tisch liegt und vom Wähler entschieden werden muss, ist die Frage, ob die rot-grüne Politik sich gerade erst auszuzahlen beginnt, oder ob man an die Entfesselung des Marktes glauben mag. Das aber verengt die Frage auf den Standort Deutschland. Konsequentes Achselzucken bei den mächtigen Medien: So ist das im Wahlkampf.

Kürzlich hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Josef Laumann unter Beifall seiner Fraktion den Niedergang der Regierung ausgemalt wie das Ende einer Besatzungszeit. Und den Wunsch geäußert, endlich die lästigen 68er aus dem Parlament zu jagen. Hauptsache Wechsel. Dann könnte man endlich zurückkehren zum immer gleichen Rechenstündchen, das Land zur Firma erklären, das sich vor den Marktgewalten auf Knien verwaltet. Politik indes ist das genaue Gegenteil dieser Polemik. Sie ist die Fähigkeit, die Konstante der Veränderung mit erwachsenen Werten zu gestalten.



Jim Rakete porträtierte Jimi Hendrix, Ray Charles, David Bowie und Mick Jagger und war ein erfolgreicher Musikproduzent. In den vergangenen Jahren machte er vorwiegend Schwarz-Weiß-Porträts deutscher Nachwuchsstars wie Til Schweiger, Meret Becker, Moritz Bleibtreu und Jürgen Vogel. Er saß in der Kanzlermaschine nach Washington, als Gerhard Schröder sich gegen den Irak-Krieg stellte.



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