Warum Europa Polen braucht
Mit Deutschland und Polen verhält es sich manchmal wie mit einem älteren Ehepaar. Man kennt sich, man schätzt sich – und doch versteht man nicht immer so genau, was der andere gerade tut. Im Moment zum Beispiel fragen sich viele Deutsche, wie eine Mehrheit der Polen die nationalkonservative PiS-Partei wählen konnte, die seither mit drastischen innenpolitischen Maßnahmen und einem antieuropäischen Kurs für Schlagzeilen sorgt.
Deutschland und Polen: selten einfach, immer spannend
„Die deutsch-polnischen Beziehungen waren immer spannend, aber selten einfach“, fasste es Artur Becker zusammen. Der Schriftsteller, der als Sohn deutsch-polnischer Eltern in den Masuren geboren wurde, aber bereits viele Jahre in Deutschland lebt, diskutierte sprach am Freitag mit Dietmar Nietan über sein Buch „Kosmopolen“. Auch Nietan, der neben seinem Amt als SPD-Schatzmeister auch Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft ist, hat polnische Vorfahren: Seine Großeltern kamen aus dem Nachbarland.
„Die Frage, ob sich Polen und Deutsche verstehen, entscheidet auch mit darüber, ob sich die Europäer gut verstehen“, zeigte sich Nietan überzeugt. Den SPD-Politiker macht es traurig, dass die westeuropäischen Länder immer etwas von oben herab auf ihre osteuropäischen Nachbarn blicken. Auch der EU-Beitritt 2004 sei vielen in Westeuropa so vorgekommen, „als würden nun die armen Brüder und Schwestern aus dem Osten kommen“.
Klischees auf beiden Seiten
Fehlendes Wissen vermisst Dietmar Nietan aber auch bei den Journalisten. „Viele, die über Polen schreiben, verstehen nicht, was dort seit dem Ende des Kalten Kriegs vor 26 Jahren passiert ist“, sagte er im Gespräch mit Artur Becker. Auch deshalb sei dessen Buch so wichtig. „Leider gibt es viele Klischees auf beiden Seiten“, stimmte der Autor zu. Vor allem junge Menschen wüssten zu wenig über die jüngere polnische Geschichte. „Ich sehe es als meine Aufgabe, das zu ändern.“
Nach Ansicht des Schriftstellers verstehen viele Westeuropäer auch nicht, dass die Menschen in den östlichen Ländern „noch immer die Folgen des Kommunismus verarbeiten“. Auch so erkläre sich das gute Ergebnis für die nationalkonservative PiS vor einem Jahr. „PiS ist eigentlich eine linke Partei“, sagte Artur Becker zum Erstaunen der Zuhörer am vorwärts-Stand – „abseits ihrer nationalkonservativen Programmatik“.
Die PiS als linke Partei?
„Die PiS war die einzige Partei, die bei der Parlamentswahl sozialdemokratische Elemente im Programm hatte“, stimmte Becker Dietmar Nietan zu. Die Partei hätte den Menschen das Gefühl vermittelt, sie kümmere sich tatsächlich um ihre Nöte. Nietan ist überzeugt: „Die Agenda von PiS-Chef Kaczynski und seiner Wähler unterscheiden sich grundlegend.“ Auch deshalb sei es wichtig „die jeweilige Volksseele zu kennen, um sich richtig zu verstehen“.
Nietan riet deshalb auf der Buchmesse dazu, nach Danzig zu reisen und sich dort das europäische Solidarnosc-Zentrum anzusehen. Es zeige nicht nur die Geschichte und das Wirken der polnischen Gewerkschaft, sondern webe diese „in den Kampf um Freiheit in europäische Traditionen ein“. Wer die Ausstellung besucht habe, erkenne schnell: „Die Mehrheit der Polen liebt die Freiheit. Und was Nazis und Sowjets ihnen nicht nehmen konnten, kann ihnen auch die PiS-Regierung nicht nehen.“
Artur Becker: Kosmopolen, Weissbooks, ISBN: 978-3863371050, 36 Euro zu bestellen u.a. in der vorwärts-Buchhandlung
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.