Warum die linken Parteien die soziale Frage wieder stellen müssen
Es liegt wohl an einem selbstreferentiellen Diskurs, der viele der nun mehr linksliberal gewordenen linken Repräsentanten in die Falle einer postmodernen Identitätspolitik gelockt hat, und sie dazu verführte mehr über Trans-Gender-Toiletten und politisch korrektes Benehmen zu sprechen sowie sich mehr dem Kampf für mehr Vielfalt und Minderheitenrechte zu widmen. Kulturkampf wurde so mehr und mehr zu der Hauptlinie der neuen akademischen Linken, wodurch sie sich in ihrer Lebenswelt mehr und mehr von der Lebenswelt vieler Arbeiter und der „Unterschicht“ – ein abfälliges Wort – abkoppelten.
Die Hegemonie des Neoliberalismus
Habituell drückt sich diese Abkopplung darin aus, dass es für viele Linksliberale, zu denen die alten Linken geworden sind, heute vor allem darauf ankommt, auf welcher Seite man steht. Man will sich selbst auf der guten Seite verortet wissen und ist so unermüdlich im Kampf gegen tabulose Äußerungen und für politische Korrektheit. Selbst die Konservativen unter Angela Merkel sind in diesem Sinne, aber auch nur in diesem Sinne links geworden, da im Zuge der Liberalisierung und Modernisierung der CDU ebenfalls Identitätspolitik und Kulturkampf zu ihren zentralen Anliegen wurden.
So entstand auch der Eindruck, dass es eine links-grüne Hegemonie in der politischen Öffentlichkeit in Parteien, aber auch im Journalismus gibt – schließlich hat die kulturelle Linke insgesamt die mediale Hegemonie gewonnen, auch im Journalismus. Steuer-, sozial- und finanzpolitisch gibt es immer noch Unterschiede zwischen den Parteien. In dieser Hinsicht stimmt der Topos der links-grünen Hegemonie nicht. Vielmehr: Ökonomisch gibt es eine Hegemonie des Neoliberalismus.
Der soziale Fortschritt wird zurückgehalten
Aber in Fragen der Identitätspolitik ist es nicht ganz falsch davon zu sprechen, dass es hier bei den Meinungseliten zu einer gewissen Annäherung im Denken gekommen ist. Diese Annäherung hat ihr Gutes. Aber sie hat auch zu Ausblendungs- und Verblendungseffekten geführt. Annäherung an eine gute Sprache ist nämlich noch nicht gleichbedeutend mit der Annäherung an das gute Leben für alle. Allein die richtige Sprache sorgt noch nicht für das Erreichen des „goldenen Zeitalters“. Denn wenn dieser Fokus auf die richtige Sprache dazu führt die soziale Frage auszublenden, ist dem sozialen Fortschritt nicht nur nicht geholfen, sondern er wird auch aktiv zurückgehalten. Resultat ist hier eben die Hegemonie des Neoliberalismus, was kein Fortschritt, sondern sogar ein Rückschritt ist.
Diese Ausblendung und diese Verblendung hat aber auch ein scheinbares Paradox erzeugt: Auf der einen Seite ist der Medienpluralismus und der Pluralismus im Generellen stärker als je zuvor. Das ist die Realpostmoderne, nämlich ein Zustand, in dem man den Glauben an die Wahrheit aufgegeben hat und sich damit arrangiert hat, dass der Relativismus der Weisheit letzter Schluss ist. Auf der anderen Seite waren sich viele liberale Meinungseliten in Fragen der Vielfaltseuphorie, die mit dem postmodernen, radikalen Pluralismus einherging, dann doch einig. Und viele akademische Linke marschierten hier voran. Sie waren und sind die Marktschreier der Postmoderne. Was hier auf der Strecke beziehungsweise verdrängt blieb, ist die soziale Frage. Trotz des radikalen Pluralismus kam die soziale Frage somit nicht mehr richtig zur Sprache: Sie drang nicht mehr richtig durch.
Die Utopie aus den Augen verloren
Stattdessen wurde die Toleranz zum letzten Verbindenden, zum letzten Minimalkonsens einer Gesellschaft, in der man sich immer weniger versteht und verstehen will. Und laut den postmodernen Ideologen muss man es auch nicht mehr; denn Vielfalt und Differenzen seien ja gut und befreiten die Gesellschaft. Man müsse die Differenzen halt nur aushalten. Toleriert euch und alles wird gut, das ist das Schlachtmotto der Postmoderne. Die Toleranz wurde so zum linksliberalen Kerngehalt per se aufgewertet und so wurde gleichsam schleichend akzeptiert, dass über die Toleranz und die richtige Sprache hinaus kein begründeter Konsens unter den Liberalen, was irgendwie dann alle nun zu sein scheinen, mehr erzielt werden könne.
Das ist gleichbedeutend mit der Aufgabe des Glaubens der Linken mit guten Gründen erfolgreich für ein gutes Leben für alle werben zu können. Oder anders gesagt: Indem die akademische Linke und die liberalen Meinungsführer sich auf die richtige Sprache fokussierten, und damit auf die Gegenwart des Sprechens, haben sie die Zukunft, die Vision, die konkrete Utopie aus den Augen verloren. Die Linke insgesamt hat so ihren eschatologischen Antrieb verloren, in dem sie in die Falle der postmodernen Identitätspolitik gelaufen ist. Das Resultat ist erneut, dass sie zurzeit scheinbar sowohl nichts gegen die Hegemonie des Neoliberalismus entgegenzusetzen hat als auch nicht klar ist, ob sie das überhaupt noch will.
Die linksliberale Blase ist geplatzt
Nun ist in einer scheinbar paradoxen Umkehrung aber selbst die Toleranz bedroht. Die westliche Welt ist in die postmoderne Falle getappt und diese bedroht nun die Demokratie. Und das auch aufgrund der Übertreibung der postmodernen Ideologie. Schließlich kann alles was in sein Extrem gebracht wird, auch in sein Gegenteil umschlagen, wussten schon die Soziologen Theodor Adorno und Max Horkheimer, als sie mit der Denkfigur der „Dialektik der Aufklärung“ zu erklären versuchten, wie es angesichts des Rationalismus der Aufklärung bloß zu dem fundamentalen Zivilisationsverlust kommen konnte, der letztlich in dem Horror von Auschwitz endete. In anderen Worten: Eine linksliberale Blase ist geplatzt und der Rechtspopulismus ist es, der sie zum Platzen gebracht hat.
Allerdings ist diese These so für sich genommen eben noch verkürzt. Mit der postmodernen Übertreibung ging nämlich zugleich der Verlust von linker Systemkritik oder die Vernachlässigung der sozialen Frage einher. Wirtschaftsliberalismus und postmoderner Liberalismus verschmolzen und selbst die Linken haben sich dem mehr oder weniger angepasst – man denke nur an „New Labour“ und die „neue Mitte“.
Die Abgehängten suchen sich neue Vertreter
Diese Vernachlässigung der sozialen Frage bei gleichzeitiger Orientierung auf Fragen des Kulturalismus hat aber einfach eine politische Repräsentationslücke aufgemacht – auch und gerade für die, die man im medialen Diskurs schon fast abfällig oft als die „Abgehängten“ bezeichnet. Die Abgehängten suchten sich neue systemkritische Kräfte. Rechtspopulisten gingen hier zum Teil in diese Lücke.
Der französische Front National etwa ist ganz offen in sozialpolitischen Fragen nach links gerückt. Er will jetzt Arbeiterpartei sein. Eine Partei für die „Vergessenen“. Er führt die Verlierer der Globalisierung in einen neuen Konflikt gegen die Gewinner der Globalisierung. Und dieser Konflikt wird über die Pole der Re-Nationalisten und Protektionisten gegen die Verteidiger der offenen und globalen Freihandelsgesellschaft zum Ausbruch gebracht. Bei Donald Trump und seinem „America First“ ist es ganz ähnlich. Trump und Front National betreiben beide Anti-Postdemokratie-Politik gepaart mit Nationalismus. Das kann man eine nationalistische Agenda gegen den Neoliberalismus nennen – zumindest rhetorisch, denn Donald Trumps Kabinettbesetzung, seine bereits angeschobene Finanzmarktderegulierung und seine Steuerpolitikpläne etwa, sagen schließlich genau das Gegenteil aus.
Die Einheit aus Postmoderne und Neoliberalismus zerbricht
Anti-Postdemokratie-Politik, gewiss eine internationalistisch geprägte Form dieser, das wäre eigentlich etwas für die Linken. Der britische Politikwissenschaftler und Sozialdemokrat Colin Crouch fordert genau dies seit Jahren von den Linken. Aber die haben bislang ihre Chance für so ein internationales Anti-Postdemokratie-Programm nicht ergriffen. Eine neue Rechte, die auch ein bisschen eine neue Linke ist, geht jetzt in diese Lücke und hat mit einer nationalen Variante dieser Anti-Postdemokratiepolitik Erfolg.
Es ist zwar demoskopisch falsch zu behaupten, dass allein wegen der Abgehängten die Rechtspopulisten zuletzt so erstarken. Es gibt schließlich auch viele Reaktionäre und viele Rechtskonservative, die sich bei den Rechtspopulisten wohler fühlen als bei den mittlerweile liberalisierten konservativen Parteien der rechten Mitte.
Was man aber mit gewisser Plausibilität sagen darf, ist: Nun zerbricht die Einheit aus Postmoderne und Neoliberalismus und der Rechtspopulismus ist der Zerstörer dieser Einheit.
Linker Gestus moralischer Überlegenheit
Zudem war und ist da eben diese kulturelle Dimension. Gerade weil bei den akademischen Linken in den letzten Jahren der postmoderne Diskurs die Hegemonie übernommen hatte und sich dort auch „Wir-und-die“-Logiken entwickelt haben, hat die akademische Linke so nicht nur den Bezug zu so manchem Arbeiter und generell vielen aus der „Unterschicht“ verloren, sondern ist diesen auch zum Teil mit moralischer Überlegenheit begegnet. Man wollte etwa die Arbeiter auch ein bisschen postmodern umerziehen. Das muss an sich noch kein falscher Ansatz sein, schließlich ist es berechtigt, jemanden für ein neues Weltbild gewinnen zu wollen. Mancher akademisch Linke ist aber tendenziell dabei einer moralischen Überheblichkeit verfallen und suggerierte vielleicht auch, dass mancher Arbeiter kein guter Mensch ist. Das könnte jedenfalls bei einigen Arbeitern genauso angekommen sein.
Bestes Beispiel ist die Aussage von Hillary Clinton im Wahlkampf, dass viele der Trump-Wähler ein „Haufen von Erbärmlichen“ seien. Clinton wollte hier diese Menschen gar nicht mehr gewinnen, sondern hat deren Unbehagen und Zweifel gegenüber einem postmodernen Avantgardismus – einer kulturellen Linken in den Metropolen an den Küsten des Landes – mit moralischer Disqualifizierung gleichgesetzt. Sie hat sie quasi aufgegeben und gar nicht mehr um sie gekämpft und sie dann sogar noch vor den Kopf gestoßen, indem sie sie beleidigt hat. So eine postmoderne Pädagogik konnte jedenfalls nicht gelingen, da man sie – zumindest teilweise – mit dem Gestus moralischer Überlegenheit vollzog. Wer sich herabgewürdigt und schlecht gemacht fühlt, der lässt sich tendenziell zu keinem neuen Weltbild bekehren. Und er lässt sich schon gar nicht darauf ein, jemanden zu wählen, der einen selbst abschätzig behandelt.
Rhetorischer Kampf für Minderheitenrechte
Erziehung ist gewiss wichtig. Sozialdemokraten etwa wünschen sich in der Tat eine Leitkultur des Humanismus, und die gibt es nicht ohne gute Erziehung in den Schulen. Guter Ethikunterricht ist dafür sehr wichtig. Gute Bürger brauchen auch Anleitung, um zu ihnen zu werden. Schule soll ein Ort der geförderten Emanzipation bleiben. Paternalismus war, ist und wird Teil des Erziehungssystems sein. Und das ist auch gut so.
Aber was falsch war, war der Fokus auf die postmoderne Identitätspolitik. Die kosmopolitische Klasse wurde auf eine moralische Art links und kämpfte fortan leidenschaftlich für Minderheitenrechte, für das Anerkennen von Differenzen, für Vielfalt. Aber meist nur rein rhetorisch und auf dem Papier. Man sprach etwa viel von der Teilhabe. Aber dass in den USA viele Afro-Amerikaner und Hispanics oder in Deutschland viele Menschen mit Migrationshintergrund bis heute sozio-ökonomisch weiterhin abgehängt sind, wurde irgendwie verdrängt.
Wenn Linkssein nur einen Klick entfernt ist
Für viele aus der kosmopolitischen Klasse geht es um eine moralische Aufbauarbeit für sich selbst – man will zu den Guten zählen. Die ökonomischen Verhältnisse finden viele der Gewinner aber dann doch ganz okay so wie sie sind. Und solange die ökonomischen Verhältnisse so bleiben wie sie sind, und man zu den Gewinnern zählt, und man trotzdem als links wahrgenommen werden kann, wenn man seinen Facebook-Freunden durch Postings signalisiert, man sei doch auf der richtigen Seite der Geschichte, dann ist das eine sehr bequeme Art für das Gute und Schöne zu werben. Links sein ist dann nur einen Klick entfernt. Auf etwas verzichten oder für etwas wirklich streiten, muss man dann nicht mehr.
Ein wunderbares Geschenk ist dieser linke Moral-Konservatismus vor allem für die Generation Y, die ohnehin beigebracht bekommen hat, dass das wahre Glück im Privaten zu suchen ist und Politik eigentlich auch überhaupt kaum noch etwas bewirken könne, weil letztlich nur noch die disruptiven Kräfte des Digitalkapitalismus in einer fulminanten „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) qua Technologieinnovation unser Leben und unsere Gesellschaft wirklich verbessern könnten und ohnehin der Markt der Politik schon immer überlegen sei.
Wir brauchen einen aktiven Humanismus
Dass das verkürzt ist, ist offensichtlich. Vor allem das Links-sein kann man nicht allein durch Liken auf Facebook erledigen. Erst der Gang in die Praxis, wie aktive Flüchtlingshilfe etwa, die es in Deutschland ja wirklich gab und gibt, schafft hier ein echtes Engagement. Das ist wichtig. Denn es ist ein konkreter und aktiver Humanismus. Aber es reicht noch nicht, um wirklich links zu sein. Links zu sein, heißt immer auch die soziale Frage zu stellen. Die Arbeiter, die prekär beschäftigt sind, und viele aus dem neuen „Dienstleistungsprekariat“ wissen das. Denn sie erleben in ihrer Subalternität eine Form von Ausgrenzung, die sich die neue kosmopolitische Klasse erst gar nicht vorstellen kann.
Und so verwundert es nicht sonderlich, dass viel von der Zurückhaltung in der Arbeiterschaft und in der „Unterschicht“ gegenüber der postmodernen Identitätspolitik schlicht und einfach damit zusammen hängt, dass viele von ihnen das Gerede von der Toleranz als substanzloses Geschwafel und reine Rhetorik wahrnehmen, die manchen Leuten nur ein besseres Gefühl geben soll, ihr eigenes Leben aber in keiner Weise verbessert.
Der verdrängte Klassenkonflikt tobt im Hintergrund
Man muss daher sagen, dass es ein Fehler der liberalen Meinungselite ist, dass dieser selbstgerechte Diskurs bislang nicht dekonstruiert wurde, sondern vielmehr noch der Eindruck einer geschlossenen Kaste entstand, die zwar Moralismus predigt, aber nicht erkennen kann oder will, dass einer der wesentlichen Gründe für die Ansprechbereitschaft der Arbeiterschaft und der „Unterschicht“ durch Rechtspopulisten darin liegt, dass im Hintergrund ein verdrängter Klassenkonflikt wütet.
Zudem kommt, dass viele Linksliberale einen Relativismus wie die ultima ratio der Welterkenntnis vor sich hergetragen haben. Das ist ein Differenzfetischismus, dem sie hier erlegen sind. Sie haben keine gemeinsame Identität, keine gemeinsame Wahrheit, keine Einigkeit mehr gelten lassen. So verloren sie die Arbeiterschaft auch zum Teil. Denn die Arbeiterbewegung hatte immer eine gemeinsame Identität. Der Begriff „Arbeiterklasse“ zeugt davon. Aber die postmodernen Ideologen haben den Arbeitern diese gemeinsame Identität in Frage gestellt. Sie wollten auch das nicht mehr gelten lassen. Das war falsch. Denn es hat selbst gut verdienende und sozial abgesicherte Arbeiter frustriert. Man hat ihnen hier etwas weggenommen – nicht materiell, sondern rein habituell.
Ein neuer Bund aus Arbeiterschaft und kulturellen Linken
Sprachlich und inhaltlich hat die Linke also einen Neuanfang nötig, wenn sie die Arbeiterschaft und die „Unterschicht“ integrieren will. Vor allem eine Volkspartei, wie die SPD, sollte an dieser Integration ein fundamentales Interesse haben. Es geht nicht darum, die kulturelle, akademische Linke gegen die Arbeiterschaft auszuspielen, es geht nicht darum, jetzt die kulturelle Linke vor den Kopf zu stoßen. Nein, vielmehr geht es darum, dass ein neuer Bund aus der Arbeiterschaft, der „Unterschicht“ und der kulturellen Linken entsteht, um die sozio-ökonomischen Herausforderungen des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts anzusprechen und mit der nötigen gemeinsamen Schlagkraft anzugehen.
Nur gemeinsam und nicht gegeneinander lässt sich der Kapitalismus erneuern. Die Linken sind seine letzte Rettung. Dafür sollten sie nun zusammenfinden. Im Sinne der Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser geht es um einen „perspektivischen Dualismus“: Es geht um die soziale Frage und um Anti-Diskriminierungspolitik. Beides soll nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern beides kann nur zusammen erfolgreich sein.
ist Sozialdemokrat und Publizist. „Sein neues Buch „Verantwortung“ ist gerade im Dietz-Verlag erschienen.