Warum das Europäische Zentrum der Solidarność in Danzig so wichtig ist
Ulf Buschmann
Kleine weiße und rote Zettel wiegen sich leicht im Hauch der Klimaanlage; „Freedom“ steht auf einem weißen, „17.04.2023“. Ein Stück weiter ist auf einem roten Zettel zu lesen: „This world needs PEACE! #NOWAR.“ Tausende weiterer Wünsche gibt es. Zusammen bilden die Gedanken das Logo der ersten freien Gewerkschaft Polens, als sich das Land noch als „sozialistisch“ bezeichnete: Solidarność.
„Ort des Denkens und der Tat“
Drei Besucher*innen stehen davor und lesen die Gedanken anderer. Dann bereichern sie die Sammlung mit ihren eigenen Wünschen. Dies wieder holt sich seit dem Jahr 2014 immer wieder: In der Dauerausstellung des Europäischen Zentrums der Solidarność, kurz ECS, das 2007 gegründet wurde. Das ECS steht an dem Platz, an dem im August 1980 tausende Werftarbeiter*innen streikten, auf dem ehemaligen Gelände der Danziger Werft, die damals noch Lenin-Werft hieß.
Aus diesem Streik ging die Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft in den Ländern des damaligen Ostblocks hervor und gilt als Vorbote des Berliner Mauerfalls am 9. November 1989. Die Dauerausstellung, die die Geschichte der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność erzählt, ist allerdings nur der eine Teil dessen, was das ECS ausmacht. Unter seinem Dach befindet sich auch noch das Solidarność-Zentralarchiv, eine Multimedia-Bibliothek und ein Bildungszentrum.
Und was angesichts des schweren Stands in Polen von sozialen Bewegungen wie LGBTQ und Nicht-regierungsorganisationen (NGOs) besonders wichtig ist: Sie alle finden im dritten Stock des ECS einen geschützten Raum für ihre Arbeit. „Hier ist der Ort, wo wir über unsere Gesellschaft frei nachdenken können“, sagt Jacek Koltan, Mitglied des Direktoriums und Beauftragter für Forschung.
Eine Million Besucher*innen jährlich
Aber das ECS sei eben nicht nur „der Ort für das Denken, sondern auch der Ort für die Tat“. Koltan bezeichnet den Zentrum denn auch gerne als „Labor für soziale und politische Veränderungen“. Alleine die Dauerausstellung als Aushängeschild des Europäischen Zentrums der Solidarność sei aus ihrer dahinter stehenden Geschichte „Inspirationsquelle für die Gegenwart und die Zukunft“.
Diese Mischung und die Angebote ziehen jedes Jahr Besucher*innen aus ganz Europa an – Koltan nennt die Zahl von rund einer Million Menschen. Sie kommen vor allem aus Deutschland, den beiden baltischen Staaten Lettland und Litauen, aus Estland und aus Skandinavien. Mit dieser Besucherzahl ist das ECS eines der meistbesuchten polnischen Museen und wirtschaftlich für die Region Danzig beziehungsweise den Tourismus extrem wichtig.
Dies, so Koltan, habe auch der im Januar 2019 ermordete Danziger Bürgermeister Paweł Bogdan Adamowicz erkannt. Er hatte eine Version und eine Erkenntnis: Die Stadt Danzig soll mehr Geld in die Kultur als wirtschaftlichen Standortfaktor investieren. Dies sei ab dem Jahr 2012 geschehen, als die Stadt einer der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft war. „Danzig hat einen Sprung in eine neue Zeit gemacht: wirtschaftlich, kulturell und sozial“, sagt der ECS-Direktor.
Konflikte mit der PiS-Regierung
Trotz aller Erfolge gibt es zwischen dem ECS und dem polnischen Ministerium für Kultur und nationales Erbe seit dem Antritt der PiS-Regierung Konflikte. Diese entzünden sich in erster Linie daran, dass das ECS die Geschichte nicht im Sinne der PiS erzählt: Statt die polnische Nation herauszustellen, verfolgt es den universellen und europäischen Ansatz.
„Wir zeigen, dass nationale Grenzen heute eigentlich keine Rolle mehr spielen“, sagt Koltan. Diese unterschiedlichen Sichtweisen führten zu einer Kürzung der Zuschüsse aus Warschau auf aktuell vier Millionen Zloty oder knapp eine Million Euro. Unterdessen sind wieder zahlreiche Besucher*innen in der Dauerausstellung unterwegs. Die meisten lassen sich vom mehrsprachigen Guide durch die Geschichte der Solidarność führen.
Diese beginnt im Grunde genommen bereits in den 1950er-Jahren. Seit damals hatte es mehrere Phasen des Protestes gegeben. Besonders tragisch war für Polen das Jahr 1970, als bei Protesten nach Preiserhöhungen Dutzende Menschen ums Leben kamen.