Kultur

Waldschrate gegen Franco

von ohne Autor · 8. Juni 2012

Lange wurde Spanien um seine wirtschaftliche Dynamik beneidet. Vergessen waren  Unterdrückung und Rückständigkeit, die vor weniger als einem Menschenleben unter Diktator Francisco Franco herrschten. Was für extreme Lebensläufe auf jenem Boden gedeihen konnten, zeigt der Abenteuerfilm „Wolfsbrüder“.

Seit der Krise ist die Zerbrechlichkeit der gegenwärtigen Ordnung auch  auf der Iberischen Halbinsel schmerzhaft ins Bewusstsein zurückgekehrt – plötzlich rückt die tot geglaubte Vergangenheit wieder ins Bewusstsein. Wie lebte es sich im Spanien der 50er-Jahre, das dank mächtiger Großgrundbesitzer und Kirchenfürsten vor allem auf dem platten Land feudale Strukturen kannte? Wie wurden Menschen damit fertig, in der Zwickmühle aus größter sozialer Not und der Willkür der ländlichen Elite zum Äußersten gezwungen zu werden?

Auf diese Fragen liefert der Film bedrückende Antworten. Seine emotionale Wucht gewinnt er vor allem daraus, dass er eine wahre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte von Marcos Rodriguez Pantoja, 1946 mitten in der andalusischen Sierra Morena geboren. Als 7-Jähriger verkauft ihn sein Vater als Gehilfen an einen alten Ziegenhirten. Als der stirbt, bleibt Marcos allein zurück. Von 1954 bis 1965 haust er in einer Höhle, vollkommen isoliert von den Menschen. Ein Wolfsrudel wird seine neue Familie. Bis ihn die Guardia Civil in ein Leben unter Menschen zurück zwingt. Daran gewöhnt hat er sich bis heute nicht.

Allein mit sich in der Wildnis

Die böse Stiefmutter, der herzlose Großgrundbesitzer und dessen kaltblütigen Schergen: Regisseur Gerardo Olivares greift tief in die Klischee-Kiste, wenn er das Personal vorstellt, das den kleinen Marcos in die Wildnis treibt. Umso beeindruckender sind die Szenen, in denen der Junge mit sich und der Natur, die ihm von seinen Wanderungen mit Vaters Ziegenherde zumindest ansatzweise vertraut ist, allein ist.

Auch wenn die Abgeklärtheit mit der er sich in das neue Leben mit dem Ziegenhirten Atanasio und den freilaufenden Wölfen stürzt, überrascht: Olivares' behutsame Art, diese Annäherung in Bilder zu übersetzen, überzeugt. Die langsamen Einstellungen von Tier und Mensch nehmen sich viel Zeit, auch für die Zwischentöne. Die Vierbeiner und Raubvögel agieren als gleichwertige Akteure – deren Eigensinn und  Unberechenbarkeit tragen erheblich zur Dynamik dieses Abenteurerfilms bei, der weitgehend ohne die berüchtigten Abenteuer-mit-Tieren-Stilmittel von der Stange auskommt. Angeblich sollen die Dreharbeiten allein mit den Tieren 14 Monate verschlungen haben, während für die Zweibeiner derer drei genügten.

Weder Hölle noch Paradies

Die Grundstimmung dieses Films ist daher vielschichtiger, als es die Handlung vorzugeben scheint. Olivares inszeniert die Wildnis weder als Hölle noch als Paradies. Für ihn ist es eine Art Labor, das seine Bewohner zwar ein Maximum an Disziplin und vorausschauendem Denken abverlangt. Doch niemand ist von Vornherein dem Untergang geweiht.

Auch Marcos nicht: Dass er ständig auf der Hut sein muss, liegt aber nicht nur an den Wölfen, die ihn zunächst als Eindringling betrachten, bevor sie mit ihm ihr Fressen teilen. Ständige Gefahr droht von außen: Atanasio ist mehr als nur ein wortkarger Berserker. Auch er hatte seine Gründe, in den Wald zu gehen – wie so viele, die im Spanischen Bürgerkrieg die Republik verteidigten und später gezwungen waren, sich wie Robin Hood und seine Gefährten im Dickicht zu verstecken. So zieht sich um Marcos und Atanasio die Schlinge immer enger. Als der Alte stirbt, muss sich Marcos ohne dessen Überlebensinstinkt mit den wohlbekannten Reitern Don Honestos herumschlagen. Diese sind der Polizei nur allzu bereitwillig dabei zu Diensten, in dem unwegsamen Gelände nach versprengten Franco-Gegnern und deren Sympathisanten zu suchen – das gemeinsame Feindbild ist unerschütterlich. Doch Eulen, Frettchen und Wölfe sind als Kampfgefährten nicht zu unterschätzen.

Extremes Leben ohne Exotik

Trotz seiner Qualitäten erfindet „Wolfsbrüder“ das Thema „Selbstfindung in der Wildnis“ nicht neu – nicht nur die Filmgeschichte, auch die Literatur ist mit Werken zu diesem Thema reichlich bestückt – es spannt sich ein Bogen von Francois Truffauts „Der Wolfsjunge“ bis zum „Dschungel-Buch“, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der Reiz des Films besteht darin, das extreme Leben eines in die Wildnis Abgeschobenen sowohl zeitlich als auch geografisch nah an unserer Lebenswelt zu verorten. Anstatt mit viel Aufwand ein exotisches Setting zu entwerfen, kann sich alles voll und ganz auf die Entwicklung eines Menschen und auf dessen Interaktion mit einer Umgebung konzentrieren, deren Unwägbarkeiten sich ihm erst nach und nach erschließen.

Anderseits hätte man sich gerade Marcos' Eintritt ins Erwachsenenalter etwas tiefgründiger vorgestellt. Doch immerhin bekommen wir eindrucksvoll vor Augen geführt, dass auch ein Leben im scheinbar ewigen Rhythmus der Natur von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt werden kann. Auch unter Wölfen kann man seine Vergangenheit nicht einfach abschütteln.

Info:
„Wolfsbrüder“ (Entrelobos, Spanien/ Deutschland 2010), ein Film von Gerardo Olivares, mit Manuel Camacho, Juan José Ballesta, Sancho Gracia, Carlos Bardem u.a., 107 Minuten. Ab sofort im Kino

0 Kommentare
Noch keine Kommentare