Kultur

Wachsende Ungleichheit schadet allen

von Sigmar Gabriel · 10. Oktober 2012

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz rechnet mit dem Turbokapitalismus ab, der den Menschen und seine Bedürfnisse aus dem Blick verloren hat. Ganz im Sinne der europäischen Sozialdemokratie plädiert er in „Der Preis der Ungleichheit“ für neue Wege.

Obwohl sein Bezugspunkt die USA sind, kann das Buch auch in Europa mit Gewinn gelesen werden. Stiglitz, Jahrgang 1943, lehrte Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993 zum Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung avancierte. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank. Heute lehrt Stiglitz an der Columbia University in New York.

Auf mehr als 500 wohlformulierten Seiten stellt Stiglitz dar, wie seine Heimat unter der Führung der US-Republikaner auseinanderdriftete. Vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ sind die USA zu einem Ort sozialer Spaltung geworden. Der Nobelpreisträger beschreibt ein Land, in dem die Reichen in abgeriegelten Communities leben, ihre Kinder auf teure Schulen schicken und von erstklassiger medizinischer Versorgung profitieren, während die Masse immer öfter durchs soziale Rost fällt.

Folgt man Stiglitz, so war es die Politik, welche die Märkte so geformt hat, dass es sich heute die Großen auf Kosten der Kleinen gut gehen lassen. Stiglitz argumentiert, dass Märkte Regeln brauchen, um zu funktionieren. Soziale Marktwirtschaft kann nicht funktionieren, wenn sich wirtschaftliche Macht in den Händen weniger konzentriert. Die wachsende Ungleichheit sei Sand im Getriebe der Volkswirtschaft, denn sie befördert Instabilität und Nachfrageeinbrüche, untergräbt Innovation und Produktivität.

Den „Preis der Ungleichheit“ sieht der Volkswirt darin, dass eine Nation nicht mehr in der Lage ist, das Bestmögliche aus den Fähigkeiten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu machen. Wer schlechte Schulen, miese Wohn- und Lebensbedingungen akzeptiert, handelt gesamtwirtschaftlich zerstörerisch.

Selbst Angehörige der Mittelklasse werden so um ihre Lebenschancen betrogen, weil korrumpierte politische Eliten Infrastruktur, Bildung und Innovation kaputtgespart haben.

Das Buch tritt gegen eine Gesellschaft an, in der selbsternannte Eliten die Spaltung vorantreiben. Dabei formuliert Stiglitz seine Kritik ausgesprochen patriotisch: Die soziale Spaltung der USA sei Verrat an den Werten dieser großartigen Nation. Inzwischen drohe Amerika sich vom Versprechen der Gerechtigkeit für jedermann zu einem Land zu entwickeln, in dem wenige Reiche systematisch bevorzugt würden.

Stiglitz ruft dazu auf, die zunehmende Ungleichheit in unseren Gesellschaften nicht einfach hinzunehmen, sondern Wirtschaft und Politik so zu reformieren, dass der Wohlstand wieder gerechter verteilt wird. Seine Streitschrift wehrt sich gegen die Vorstellung unausweichlicher Niedergangsszenarien und ratloser Hinweise auf angeblich zwangsläufige Folgen einer globalisierten Ökonomie. Es ist vielmehr die politische Macht der Hochfinanz, die faire Spielregeln verhindert. Indem Stiglitz dies klar benennt, gibt er der Debatte eine neue Richtung: Prinzipiell kann das politische System die geschwächte Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite auch wieder stärken und damit ein neues soziales Gleichgewicht schaffen.

 Stiglitz schrieb sein Buch unter dem Eindruck des arabischen Frühlings und der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Diese Revolten nähren seinen Grundoptimismus, dass Wandel in Richtung auf eine bessere Gesellschaft möglich ist. Diese Zuversicht sollten sich Linke und Progressive aller Länder nicht nur erhalten, sondern auch als Haltung in bevorstehende Wahlkämpfe übernehmen.

Joseph Stiglitz diskutiert mit Peer Steinbrück auf der Frankfurter Buchmesse am vorwärts-Stand | Halle 3.0  B173

am 12.10.2012 um 13.30 Uhr

Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht

Diskussion mit Joseph Stiglitz und Peer Steinbrück

Moderation: Katharina Gerlach

Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, Siedler Verlag, 512 Seiten, 24,99 Euro, ISBN 978-3-8275-0019-9

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Autor*in
SPD-Chef Sigmar Gabriel
Sigmar Gabriel

ist Bundesaußenminister und Vize-Kanzler.

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