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Kultur

vorwärts-Reihe „Politik trifft Buch“: Wie Corona das Lesen verändert

Von Kindern, Kultur bis zum Wappnen für die Zukunft – am Montag stand die digitale Veranstaltungsreihe des vorwärts „Politik trifft Buch“ im Rahmen der Leipziger Buchmesse ganz im Zeichen der aktuellen Corona-Lage.
von Alica Aldehoff · 01. June 2021

Los ging es mit einer Gesprächsrunde moderiert von Carsten Brosda, Hamburgs Senator für Kultur und Medien und Vorsitzender des Kulturforums der deutschen Sozialdemokratie. Darin kamen der Verleger Gunnar Cynybulk, die Autorin Simone Buchholz und Dr. Sonja Longolius, Leiterin des Literaturhaus Berlin, zu Wort. Sie diskutierten darüber, wie sich die Pandemie auf das Leseverhalten ausgewirkt habe und wie es um den Büchermarkt steht.

Corona hielt vom Lesen ab

Schnell stellte sich heraus: Unberührt blieb keiner der Geladenen von der Pandemie. Es herrschte allgemeine Einigkeit, dass die aufreibende Zeit zu Beginn der Pandemie vom Lesen weitestgehend abgehalten habe. Sonja Longolius sagte dazu: „Am Anfang habe ich weniger gelesen ob dieser Überforderung, die uns vielleicht auch alle heimgesucht hat. Da war diese Reflektiosphase fast nicht möglich. Das, was das Lesen einem ermöglicht, sich in sich oder eine andere Geschichte zurückzuziehen, war einfach nicht möglich.“ Danach – und auch in diesem Punkt waren sich alle einig –  folgte eine Veränderung des typischen Leseverhaltens.

Simone Buchholz etwa griff zu Cartoons wie Tom Gaulds „Abteilung für irre Theorien“, eine Ansammlung an Wissenschaftscartoons, die sie durch ihre humorvolle Aufarbeitung begeistert hätten. Mit Fortschreiten der Pandemie habe sie dann eine solche Wut auf das Patriachat entwickelt, dass sie fortan nur noch Frauen las. So sprach sich Buchholz im weiteren Verlauf des Gesprächs auch für eine Förderung schreibender Frauen aus. In dem Alter, in dem Nachwuchsautor*innen gefördert würden, wären Frauen oft mit dem Großziehen von Kindern beschäftigt. Gerade Präsenzstipendien von vier Wochen kämen also für Mütter oft nicht in Frage. Danach sei das Höchstalter von 40 Jahren für eine Förderung überschritten. Dies müsse sich ändern.

Den Buchmarkt stützen und fördern

Gunnar Cynybulk sah auch insgesamt eine zu geringe Förderung: „Das ist immernoch viel zu wenig. Wir haben den zweitgrößten Buchmarkt der Welt, der sich seit zehn Jahren stabil hält. Dies mehr zu stützen und zu fördern, sollte mehr Relevanz haben.“ Politiker*innen könnten zudem das Lesen mehr in die Berichterstattung holen, indem sie öffentlich von Literatur sprächen, die sie gerade lesen.

Was die aktuelle Lage der Kultur betrifft, waren sich Cynybulk und Longolius einig, dass Kultur auf die Straße und ins öffentliche Leben zurückgebracht werden müsse, ohne diese dem Kommerz zu überlassen. Pop-Up-Radwege wie in Berlin seien hier laut Cynybulk ein richtiger Ansatz. Dem konnte sich Longolius anschließen: „Hier wurde sich der öffentliche Raum erfolgreich zurückgeholt.“

Kanzlerkandidat Olaf Scholz gibt Lesetipps

Anschließend ging es in die vorwärts-Buchhandlung im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Dort sprach SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Interview über inspirierende Bücher und die Bedeutung, die das Lesen für ihn persönlich hat. Scholz hat es ganz offensichtlich genossen, ein wenig Muse in einer Buchhandlung zu haben. Vor der Pandemie habe er dort immer wieder gerne gestöbert, momentan weiche er etwa auf Lesetipps in der Zeitung aus. Als inspirierende Literatur nannte er insbesondere Werke, die sich mit den aktuellen Herausforderungen an Gesellschaft und Ökonomie beschäftigen. So nannte er etwa „Der Triumph der Ungerechtigkeit“ von den beiden Ökonomen und Ungleichheitsforschern Emmanuel Saez und Gabriel Zucman als besonders lesenswert.

Das Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung des amerikanischen Steuersystems unter Trump und habe Scholz die Dringlichkeit seiner eigenen Arbeit noch einmal vor Augen geführt: „Die Autoren beschreiben, wie es dazu kam, dass die, die am wenigsten verdienen nun am meisten Steuern bezahlen. Das ist ein Problem, das auch in Europa zunehmend zu erkennen ist. Ein Grund, sich dafür einzusetzen, zum Beispiel den Wettlauf nach unten bei der Unternehmensbesteuerung zu beenden.“ Das Buch motiviere ihn, weiter für sein Vorhaben zu kämpfen, auf globaler Ebene eine Unternehmensmindestbesteuerung zu vereinbaren.

Weiterhin legte Scholz den Zuschauer*innen eine Autorin ans Herz, die er als Ökonomin besonders zu schätzen lernte: Mariana Mazzucato. Mit ihrem neuen Buch „Mission“, in dem sie den Weg in eine neue Wirtschaft beschreibt, treffe sie das Hauptanliegen der SPD und die Zukunftsmissionen der Partei. Es brauche, so Scholz, ein Zusammenwirken von Forschung, unternehmerischem Handeln, aber auch eines aktiven Staates. Dies alles beschreibe die Autorin entgegen manchen Mainstreams in der Ökonomie sehr präzise und gut. In der Belletristik verwies er auf „Herkunft“ von Saša Stanišić, in dem der Autor beschreibt, wie er aus Bosnien nach Heidelberg kam und Deutschland kennenlernte.

Das Lesen braucht eine Lobby

Zum Schluss lud Karin Nink, Chefredakteurin und Geschäftsführerin des vorwärts-Verlages, zum Gespräch mit der preisgekrönten Kinderbuchautorin Kirsten Boie. Es ging um ein Thema, das sich während der Zeit geschlossener Schulen wohl noch intensiviert haben dürfte: das mangelnde Lesevermögen von Kindern und Jugendlichen. Als ehemalige Lehrerin erschüttere Boie, dass jede*r fünfte Grundschüler*in in der vierten Klasse noch immer nicht lesen könne. Dies würde Kinder bereits im Alter von zehn Jahren vor Hürden stellen, die sie den Rest ihres Lebens kaum überwinden könnten.

Die Autorin sprach sich angesichts des Problems für eine Umstrukturierung des Schulsystems sowie eine allgemeine Kita-Pflicht aus, da Kinder mit geringem Lesevermögen oft aus Stadtteilen kämen, in denen der Anteil der Kinder, die keine Kita besuchten, besonders hoch sei. Mit der Forderung eines verpflichtenden Kita-Besuches habe sie lange gehadert. Letztendlich aber, so Boie, sei auch die Einführung der Schulpflicht vor rund 150 Jahren auf erheblichen Protest gestoßen, aber letztendlich heute etwas Selbstverständliches. Auch angesichts der zunehmenden Nutzung von Smartphones unter Kindern, die diese vom Lesen abhalte, forderte sie: „Das Lesen braucht eine Lobby“. So endet der Abend mit vielen Eindrücken rund um das Lesen in dieser turbulenten Zeit  – und klaren Aufträgen an die Politik.

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