Das ist der Lebensbericht eines ungewöhnlichen Menschen.
Peter Glotz hat ihn im Bewusstsein seines nahenden Todes
geschrieben. Es ist die letzte Wortmeldung eines Mannes,
der als Sozialdemokrat dem Gemeinwesen und
seiner Partei in vielfältigen Funktionen gedient,
der wichtige Anstöße gegeben und die Zeitläufe über Jahrzehnte
mit ebenso scharfsinnigen wie kritischen Kommentaren begleitet hat. Zugleich ist der Bericht eine Art persönliche Rechenschaft und ein Vermächtnis, weil er darin den Blick
immer wieder auch in die Zukunft richtet.
Als die Leistungen, die ihn am meisten befriedigten, nennt er
die Errichtung des Wissenschaftskollegs in Berlin,
die Wiederingangsetzung des Dialogs
mit den Studenten der 68er Generation
und die Gründung der Universität Erfurt.
Freimütig spricht er von Fehlschlägen und Irrtümern - etwa
seiner Skepsis gegenüber der deutschen Einheit
oder seinem Widerstand gegen die
Bestimmung Berlins zur deutschen Hauptstadt.
Ebenso lesenswert ist, was er über die Persönlichkeiten schreibt,
denen er begegnet ist und die für ihn wichtig waren.
Nicht wenige haben in der jüngeren Geschichte unseres Landes
eine bedeutsame Rolle gespielt. Das gilt für den
leider zu rasch in Vergessenheit geratenen Waldemar von Knoeringen,
der damals für viele junge Menschen eine Leitfigur
auf dem Wege zur
Sozialdemokratie des Godesberger Programmes war.
Es gilt für Willy Brandt, in dessen unmittelbarer Nähe er
als Bundesgeschäftsführer von 1981 bis 1987 arbeitete,
für Helmut Schmidt und Herbert Wehner,
für Johannes Rau oder Erhard Eppler.
Bekanntes ergänzt er durch originelle Nuancen
und sein pointiertes Urteil. Übrigens mit durchaus
objektivem Ergebnis auch über mich.
Seine spezielle Aufmerksamkeit widmet er den
so genannten Enkeln, besonders Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine.
Schröder wird er in positivem Sinne gerecht.
Lafontaine begegnet er bei aller Kritik mit einem Maß an
Verständnis und einer Milde, die wohl nicht alle Leser teilen werden.
Anschaulich und geistreich sind seine Schilderungen und Bewertungen
gesellschaftlicher Prozesse und politischer Ereignisse,
die er miterlebt hat und an denen er häufig genug beteiligt war.
Besonders anschaulich die Schilderung der Studentenbewegung
Ende der 60er Jahre an der Münchner Universität,
deren Konrektor er damals war.
Geistreich - wenn auch eigenwillig - seine Auseinandersetzung
mit dem berühmt-berüchtigten Mescalero-Artikel, der in der
Hochzeit der RAF-Anschläge "klammheimliche Freude"
an der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback
bekundete. Anschaulich seine Schilderung der Berliner Senatskrise
im Jahre 1981 und des Endes der sozialliberalen Koalition
1982. Und nicht minder die der Auseinandersetzung
um die Zulassung des privaten Fernsehens.
Kritisch äußert er sich an nicht wenigen Stellen gegenüber
seiner eigenen Partei. In manchem wird man ihm Recht
geben müssen. Und das nicht nur bei einigen seiner
Bemerkungen zur früheren sozialdemokratischen Hochschulpolitik,
sondern auch bei seiner Feststellung, die Partei habe die
grundlegenden Veränderungen der ökonomischen Realität
zu spät akzeptiert und sich nicht rechtzeitig genug
um den Zugang zu den Lebenswelten der
nachwachsenden Generation bemüht.
In anderen Fragen fordern seine Thesen zur Diskussion heraus.
So wenn er sagt, die Sozialdemokratie müsse sich
"in dieser Reihenfolge"als Partei "der Aufklärung,
des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der
sozialen Gerechtigkeit" verstehen.
Da rückt - jedenfalls für mich - die dauernde Orientierung
an den Grundwerten und dem diesen zu Grunde liegenden
Menschenbild zu weit nach hinten. Der wissenschaftliche
Fortschritt ist an den Grundwerten zu messen und
diesen nicht über- sondern nachgeordnet.
Dennoch ist die Partei gut beraten, sich mit den
Glotzschen Gedanken sorgfältig auseinanderzusetzen.
Vieles erfährt man über den Menschen Peter Glotz.
Über die innige Liebe zu seiner Mutter,
seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz, seine Begeisterungsfähigkeit
und seine Freude an sprachlicher Eloquenz.
Anrührend die letzten Seiten, auf denen er den Brand
seines Hauses in Wald und seine zärtliche Beziehung
zu seinem erst siebenjährigen Sohn Lion schildert.
Entwaffnend schließlich sein Bekenntnis,
als Prägestöcke hätten auf sein Wesen seit den 50er Jahren
Rastlosigkeit, Ungeduld, Arbeitswut und ein
zwar schuldbewusst registrierter, aber nur schwer
überwindbarer Zynismus gegenüber anderen eingewirkt.
Peter Glotz nennt sich im Titel seines Buches einen Grenzgänger.
Das war er in der Tat. Schon als Kind, als er 1945
mit seiner tschechischen Mutter von Eger nach Bayern
flüchten musste. Später war er Grenzgänger
zwischen Politik und Wissenschaft,
zwischen harter Alltagsarbeit und kühnen theoretischen Ansätzen,
zwischen der Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen
und dem Engagement für visionäre Ziele.
Sein Buch zeigt, dass er diese Spannungen ausgehalten und
gerade deshalb seiner Zeit immer wieder vorausgedacht hat.
Dafür verdient er Dank über den Tag hinaus.
Von Hans-Jochen Vogel
Hans-Jochen Vogel war von 1987 bis 1991 SPD-Parteivorsitzender.
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