Kultur

Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers

von Die Redaktion · 6. Oktober 2005

Das ist der Lebensbericht eines ungewöhnlichen Menschen.

Peter Glotz hat ihn im Bewusstsein seines nahenden Todes

geschrieben. Es ist die letzte Wortmeldung eines Mannes,

der als Sozialdemokrat dem Gemeinwesen und

seiner Partei in vielfältigen Funktionen gedient,

der wichtige Anstöße gegeben und die Zeitläufe über Jahrzehnte

mit ebenso scharfsinnigen wie kritischen Kommentaren begleitet hat. Zugleich ist der Bericht eine Art persönliche Rechenschaft und ein Vermächtnis, weil er darin den Blick

immer wieder auch in die Zukunft richtet.

Als die Leistungen, die ihn am meisten befriedigten, nennt er

die Errichtung des Wissenschaftskollegs in Berlin,

die Wiederingangsetzung des Dialogs

mit den Studenten der 68er Generation

und die Gründung der Universität Erfurt.

Freimütig spricht er von Fehlschlägen und Irrtümern - etwa

seiner Skepsis gegenüber der deutschen Einheit

oder seinem Widerstand gegen die

Bestimmung Berlins zur deutschen Hauptstadt.

Ebenso lesenswert ist, was er über die Persönlichkeiten schreibt,

denen er begegnet ist und die für ihn wichtig waren.

Nicht wenige haben in der jüngeren Geschichte unseres Landes

eine bedeutsame Rolle gespielt. Das gilt für den

leider zu rasch in Vergessenheit geratenen Waldemar von Knoeringen,

der damals für viele junge Menschen eine Leitfigur

auf dem Wege zur

Sozialdemokratie des Godesberger Programmes war.

Es gilt für Willy Brandt, in dessen unmittelbarer Nähe er

als Bundesgeschäftsführer von 1981 bis 1987 arbeitete,

für Helmut Schmidt und Herbert Wehner,

für Johannes Rau oder Erhard Eppler.

Bekanntes ergänzt er durch originelle Nuancen

und sein pointiertes Urteil. Übrigens mit durchaus

objektivem Ergebnis auch über mich.

Seine spezielle Aufmerksamkeit widmet er den

so genannten Enkeln, besonders Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine.

Schröder wird er in positivem Sinne gerecht.

Lafontaine begegnet er bei aller Kritik mit einem Maß an

Verständnis und einer Milde, die wohl nicht alle Leser teilen werden.

Anschaulich und geistreich sind seine Schilderungen und Bewertungen

gesellschaftlicher Prozesse und politischer Ereignisse,

die er miterlebt hat und an denen er häufig genug beteiligt war.

Besonders anschaulich die Schilderung der Studentenbewegung

Ende der 60er Jahre an der Münchner Universität,

deren Konrektor er damals war.

Geistreich - wenn auch eigenwillig - seine Auseinandersetzung

mit dem berühmt-berüchtigten Mescalero-Artikel, der in der

Hochzeit der RAF-Anschläge "klammheimliche Freude"

an der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback

bekundete. Anschaulich seine Schilderung der Berliner Senatskrise

im Jahre 1981 und des Endes der sozialliberalen Koalition

1982. Und nicht minder die der Auseinandersetzung

um die Zulassung des privaten Fernsehens.

Kritisch äußert er sich an nicht wenigen Stellen gegenüber

seiner eigenen Partei. In manchem wird man ihm Recht

geben müssen. Und das nicht nur bei einigen seiner

Bemerkungen zur früheren sozialdemokratischen Hochschulpolitik,

sondern auch bei seiner Feststellung, die Partei habe die

grundlegenden Veränderungen der ökonomischen Realität

zu spät akzeptiert und sich nicht rechtzeitig genug

um den Zugang zu den Lebenswelten der

nachwachsenden Generation bemüht.

In anderen Fragen fordern seine Thesen zur Diskussion heraus.

So wenn er sagt, die Sozialdemokratie müsse sich

"in dieser Reihenfolge"als Partei "der Aufklärung,

des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der

sozialen Gerechtigkeit" verstehen.

Da rückt - jedenfalls für mich - die dauernde Orientierung

an den Grundwerten und dem diesen zu Grunde liegenden

Menschenbild zu weit nach hinten. Der wissenschaftliche

Fortschritt ist an den Grundwerten zu messen und

diesen nicht über- sondern nachgeordnet.

Dennoch ist die Partei gut beraten, sich mit den

Glotzschen Gedanken sorgfältig auseinanderzusetzen.

Vieles erfährt man über den Menschen Peter Glotz.

Über die innige Liebe zu seiner Mutter,

seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz, seine Begeisterungsfähigkeit

und seine Freude an sprachlicher Eloquenz.

Anrührend die letzten Seiten, auf denen er den Brand

seines Hauses in Wald und seine zärtliche Beziehung

zu seinem erst siebenjährigen Sohn Lion schildert.

Entwaffnend schließlich sein Bekenntnis,

als Prägestöcke hätten auf sein Wesen seit den 50er Jahren

Rastlosigkeit, Ungeduld, Arbeitswut und ein

zwar schuldbewusst registrierter, aber nur schwer

überwindbarer Zynismus gegenüber anderen eingewirkt.

Peter Glotz nennt sich im Titel seines Buches einen Grenzgänger.

Das war er in der Tat. Schon als Kind, als er 1945

mit seiner tschechischen Mutter von Eger nach Bayern

flüchten musste. Später war er Grenzgänger

zwischen Politik und Wissenschaft,

zwischen harter Alltagsarbeit und kühnen theoretischen Ansätzen,

zwischen der Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen

und dem Engagement für visionäre Ziele.

Sein Buch zeigt, dass er diese Spannungen ausgehalten und

gerade deshalb seiner Zeit immer wieder vorausgedacht hat.

Dafür verdient er Dank über den Tag hinaus.

Von Hans-Jochen Vogel

Hans-Jochen Vogel war von 1987 bis 1991 SPD-Parteivorsitzender.

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