Kultur

Von der Kriminalprävention zum Massenmord

von Die Redaktion · 30. Oktober 2007

von Felix Wiedemann

Den Wenigsten dürfte bekannt sein, dass bis 1942 weitaus mehr Menschen in staatlichen Vollzugsanstalten inhaftiert waren, als in den Konzentrationslagern der SS. Bereits unmittelbar nach der "Machtergreifung" war die Zahl der Häftlinge sprunghaft angestiegen. Grund hierfür waren zum einen Verurteilungen aufgrund neu geschaffener Straftatbestände wie politischer Vergehen oder "Rassenschande", zum anderen aber die nationalsozialistische Terrorjustiz gegen "Asoziale".

Hierunter fielen so genannte Berufs- und Gewohnheitsverbrecher. Letztlich aber galten als "asozial" oder "gemeinschaftsfremd" alle Menschen, die in irgendeiner Weise auffällig geworden waren und als "gefährlich" oder "wertlos" für die zu schaffende nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" erachtet wurden. Während gemäß der NS-Strafrechtslehre die bloß "gestrauchelten Volksgenossen" wieder in die "Volksgemeinschaft" eingegliedert werden sollten, galt es, die "Asozialen" rücksichtslos zu bekämpfen. Der herrschenden kriminalbiologischen Auffassung entsprechend verstanden die NS-Juristen ihr Vorgehen dabei als eine Art chirurgischen Eingriff und sprachen von einer notwendigen "Ausmerze" oder "Reinigung" der "Volksgemeinschaft" von den "Asozialen", die für sie Krankheitsherde darstellten.

Gefängnis und Strafgefangenenlager

Der Vorgehen des Unrechtsstaates gegen die "Gemeinschaftsfremden" setzte schon in den ersten Jahren des Regimes mit der so genannten vorbeugenden Verbrechensbekämpfung und der Möglichkeit ein, Straftäter nach Ablauf ihrer Haft für unbestimmte Zeit in "Sicherheitsverwahrung" zu nehmen. Wachsmann zeigt, wie die Zusammenarbeit zwischen Justiz und Polizei auf diesem Gebiet weitgehend reibungslos verlief.

Auch die Zustände in den Gefängnissen brutalisierten sich rasch. Eine neue Stufe der Barbarei war aber zweifellos mit der Einrichtung riesiger Strafgefangenenlager ab 1934 erreicht. Besonders berüchtigt waren hier die von der SA übernommenen Emslandlager, in denen die Häftlinge unter ständigen Misshandlungen schwerste Zwangsarbeit zur Trockenlegung der Moore leisten mussten.



"Vernichtung durch Arbeit"


Im zentralen Kapitel des Buches befasst sich der in England lehrende Historiker Wachsmann mit dem größten Verbrechen der nationalsozialistischen Strafjustiz - der systematischen Ermordung von Justizhäftlingen während des Krieges. Angestachelt durch vielfache öffentliche Auslassungen Hitlers, es könne nicht sein, dass die "besten Männer" an der Front fielen, während die Verbrecher in den Gefängnissen "konserviert" würden, sah das Gros der NS-Juristen nun den Zeitpunkt gekommen, die "Asozialen" endgültig "auszumerzen".

Bei diesem Mordprogramm lieferten die Gefängnisse bestimmte Häftlinge an die Polizei zur Überführung in ein Konzentrationslager aus, wo sie dann - so die seinerzeitige, ganz offizielle Bezeichnung - der "Vernichtung durch Arbeit" zugeführt wurden.



Sozialdemokraten, Kommunisten und Homosexuelle


Dabei umfasste das Programm zwei Kategorien von Häftlingen: Juden, Sinti und Roma, Polen und andere "Fremdvölkische" fielen unter die "generelle Abgabe", wurden also sofort in die Konzentrationslager deportiert. Daneben gab es noch eine "individuelle Abgabe": Hierfür wurde im Reichsjustizministerium eine eigene Geheimabteilung geschaffen, in welcher drei Selektionsexperten jeweils nach Einzelfall über das Schicksal der "asozialen" Häftlinge entschieden. In ungefähr 40 Prozent der Fälle bedeutete dies die Überstellung ins Konzentrationslager.

Auf zahlreichen Dienstreisen an die Stätten des Terrors konnten sich die Männer vom Justizministerium schließlich davon überzeugen, dass die "Vernichtung durch Arbeit" in der Regel nach kurzer Zeit mit dem Tod der Häftlinge endete.

Zu den Opfern dieser Mordaktion gehörten keineswegs nur Sicherheitsverwahrte und "Gewohnheitsverbrecher", sondern in zunehmendem Maße auch Homosexuelle und politische Häftlinge (vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten). Insgesamt wurden auf diese Weise über 20.000 Menschen in die Konzentrationslager überstellt; mehr als zwei Drittel überlebten dies nicht.



Bedingt rechtsstaatlich


Der letzte Teil des Buches handelt schließlich von dem skandalösen Umgang mit den Justizverbrechen in der frühen Bundesrepublik. Die Beteiligten am Häftlingsmord hatten sich zwar Anfang der 1950er Jahre vor dem Landgericht Wiesbaden zu verantworten, konnten sich aber - unter geflissentlicher Ignorierung oder phantasievoller Interpretation der schon damals vorliegenden Dokumente - damit herausreden, sie hätten die wörtliche Bedeutung der von ihnen selbst verwendeten Begriffe "Vernichtung" und "Ausmerze" nicht absehen können.

Der Gipfel bestand schließlich darin, dass das Gericht das Vorgehen gegen die "Asozialen" wegen der von diesen ausgehenden angeblichen Gefahren als grundsätzlich rechtmäßig bezeichnete. Eklatante Fehlurteile wie diese lassen die junge Bundesrepublik freilich nur sehr bedingt als Rechtsstaat erscheinen.

Mit derartigen Freibriefen ausgestattet konnten die wahren "Berufsverbrecher" (d.h. die Juristen, deren Beruf das Töten war) jedenfalls ihre Karrieren wieder aufnehmen. Sie blieben bis weit in die 1970er Jahre in Amt und Würden und genossen anschließend ihre Pensionen. Die überlebenden Opfer hingegen sind in der Regel niemals entschädigt worden.

Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug unter Hitler, Siedler, München 2007, 622 S., 28 Euro

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