Kultur

Von Demokratie und Freiheit

von Vera Rosigkeit · 12. Oktober 2006
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"Sind die Schuhe nicht zu groß, in die sie sich da stellt?" dachte der Politikwissenschaftler Claus Offe, als die frisch gewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung eine Anleihe bei ihrem charismatischen Vorgänger Willy Brandt tätigte. "Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen" wurde Merkels Regierungsmotto. 36 Jahre zuvor klang es bei Brandt ganz ähnlich. Mit dem Satz "wir wollen mehr Demokratie wagen" läutete der erste sozialdemokratische Bundeskanzler innere Reformen ein.

Nach Meinung von Richard Schröder war Brandt mit dieser Politik trotz einiger Rückschläge erfolgreich. "Politische Partizipation als gesellschaftliches Prinzip hat unter Willy Brandt klar gewonnen", urteilt der Philosoph und Theologe. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, kann sich gut an die damalige Zeit erinnern. "Den Beginn der sozialliberalen Koalition habe ich als etwas Euphorisches wahrgenommen", teilt sie Schröders positive Einschätzung. Auch die anderen Gäste bringen Brandt mit positivem Wandel in Verbindung. Manche sprechen von einem Schub, der mit dem Antritt der sozialliberalen Bundesregierung einher ging.

"Einen solchen Schub hat Merkel offensichtlich nicht ausgelöst", erklärt Moderatorin Tissy Bruns vom "Tagesspiegel", und fragt in die Runde, warum sich die neue Kanzlerin ausgerechnet an dem Sozialdemokraten Brandt orientiert habe. "Merkel musste vieles unter einen Hut bringen", sagt SPD-Mitglied Gesine Schwan. Da habe auf einmal die SPD im Regierungsboot gesessen. Und das nach einem Wahlkampf, in dem mit ziemlich harten Bandagen gekämpft worden sei. Hierauf habe die Kanzlerin eine Antwort finden müssen - und sie bei Brandt gesucht.



"Keine Hommage an Willy Brandt"


Vom Wahlkampf spricht auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen. Die Äußerungen von Herrn Kirchhof noch im Ohr, habe ihn das Merkel-Motto "ein bisschen verärgert". Annen: "Als Hommage an Willy Brandt habe ich das jedenfalls nicht verstanden." Heute sehe er aber alles etwas entspannter.

Richard Schröder hatte zuvor die Merkelsche Definition von Freiheit noch einmal erläutert. "Wachstumsbremsen lösen", "Bürokratie abbauen" seien wichtige Schlagworte der Antrittsrede gewesen. Und vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine muntere Debatte über mehr Staat, weniger Staat und bessere Regulierung.

Claus Offe findet es "ärgerlich", wenn "der Staat mit einer Bremse gleich gesetzt" werde. "Wir sollten es uns nicht leisten, so zu tun, als ob jede Staatstätigkeit verdächtig sei", erklärt er. Diese Meinung hat auch Niels Annen. "Die von Politikern und Wirtschaft oft erhobene Forderung der letzten Jahre, dass sich der Staat zurückziehen müsse, korrespondiert nicht mit den Erwartungen der Bevölkerung." Freiheit bedürfe auch einer materiellen Grundlage, glaubt der SPD-Parlamentarier. Und Gesine Schwan hält es mit Tony Blair, der "better regulation", bessere Regulierung, gefordert habe.

"Wir haben kein Anrecht auf unsere Sozialstandards"

Für Arnold Vaatz, CDU-MdB, vertritt die Kanzlerin den richtigen Freiheitsbegriff. Das sei die Ansage gewesen, dass man politisch aus dem "Schwitzkasten" heraus wolle, ja heraus müsse, erläutert er mit Blick auf die Regierungserklärung. "Wir haben kein Anrecht darauf, dass unsere sozialen Standards die nächsten Jahrzehnte beibehalten werden."

Dafür nennt er auch ein Beispiel: "Wenn ein Unternehmer in meinem Wahlkreis Dresden seine Mitarbeiter vor die Entscheidung stellt, dass er ihnen auf Grund der wirtschaftlichen Lage entweder kündigt oder zehn Prozent weniger Lohn zahlt, hat der Arbeitnehmer die Freiheit, sich zu entscheiden." Eine Definition von Freiheit, die das Publikum mit protestierendem Raunen kommentiert.

Jürgen Dierkes

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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