Vom Verbrechen zum Widerstand
In dieser Stadt herrscht das organisierte Chaos. Die blanke Not so vieler Bewohner bereitet den Boden für die grassierende Kriminalität. Gangsterbanden kontrollieren alles. Polizisten werden geschmiert oder umgelegt. Selbst als die Regierung die Militärpolizei in den Hexenkessel schickt, scheint der Versuch, das Recht durchzusetzen, aussichtslos. Eine Geschichte, wie geschaffen für großes amerikanisches Gangsterkino. Doch jene von Korruption und Willkür durchsetzte Welt liegt nicht etwa in einem abgehängten Stadtteil von New York oder Los Angeles. Schauplatz von „The Gang“ ist die niederländische Stadt Oss und deren Umgebung. Anfang der 1930er-Jahre herrschen in Nordbrabant trotz rauchender Schlote Armut und Analphabetismus. Auch moralisch geht es in der Industriestadt immer weiter bergab. Politiker und Kirchenvertreter machen gemeinsame Sachen bei schlimmsten Gräueltaten. Wer kann, packt die Koffer. Die meisten arrangieren sich mit dem System der Rechtlosigkeit.
Überall Misstrauen
Auch Johanna träumt von einem besseren Leben. Mit ihrem Mann Ties, soeben aus der Haft entlassen, baut sie ein kleines Restaurant auf. Schnell holt die Realität die Eheleute wieder ein. Ties entwickelt sich zunehmend zum brutalen Scheusal und nutzt seine allseits begehrte Frau nach Strich und Faden aus. Johanna erkennt, dass sie ihren Weg ohne ihren Mann gehen muss. Dafür schmiedet sie gewagte Allianzen – auch um den Preis, ebenfalls brutal zu werden. Derweil spitzt sich der Kampf zwischen den Gangstern und der Staatsgewalt weiter zu. Auch Ties und sein Onkel drehen fleißig mit an der Gewaltschraube. Und zwar so weit, dass die Exzesse die Regierung der Niederlande ins Wanken bringen und den Nazis im Parlament in die Hände spielen. Wer weiß in diesem Dickicht aus Intrigen und Erpressung schon, wem noch trauen ist?
Kaum zu glauben, dass sich dieses Inferno mitten in Europa abgespielt hat. Andererseits zeigt der Blick ins damalige Deutschland, wie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auch andere europäische Gesellschaften, wenn auch in anderer Ausprägung, in den Abgrund blickten – um letztendlich darin zu versinken.
Überraschende Wendungen und schillernde Figuren
Fest steht, dass Regisseur André van Duren die Handlung auf der Grundlage wahrer Begebenheiten ausbreitet, wenn auch mit fiktiven Charakteren. Kritiker warfen ihm vor, mit dem historischen Geschehen recht frei umgegangen zu sein. Ein Einwand, der dem Reiz dieses auf große Effekte – auch emotionaler Art – angelegten Film keinen Abbruch tut. Gefühlsausbrüche gibt es reichlich, doch nicht als Selbstzweck. Sie sind eingebunden in die überraschenden Wendungen, die diese Geschichte immer wieder nimmt. Zudem kommt die aufwändige Produktion keinesfalls überladen daher. Zwar dominiert dank moderner Computertechnik die gigantische Fabrik des, wie er genannt wird, „Fleischjuden“ kathedralengleich die düstere Tristesse der Stadt mit ihren engen Gassen und schmuddeligen Reihenhäusern – schließlich steht sie für eine der wenigen legalen Wege, in Oss legal Geld zu verdienen,wenngleich es im Büro des Eigentümers nicht immer mit rechten Dingen zugeht.
Ansonsten gibt der Film, der vor vier Jahren in den niederländischen Kinos lief und seine Deutschland-Premiere nun auf DVD und Blu-ray erlebt, den Dynamiken zwischen den schillernden Figuren breiten Raum, selbst wenn das detailverliebte Szenenbild und ebensolche Ausstattung den einen oder anderen dramaturgischen Schnitzer übertünchen. Die selbstbewusste Johanna, die aus jeder Erniedrigung neue Kraft zu ziehen scheint, weil sie sie ihrem Ziel, die verkommene Stadt zu verlassen, näher bringt, entwickelt sich zunehmend zur gewieften, nahezu mysteriösen Gegenspielerin des Paten von Oss, der überall seine Strippen zieht.
Keimzelle des Widerstands
Das alles zeugt von besten Film-Noir-Traditionen aus den 30er- und 40er-Jahren, garniert mit einer Prise Raubritter-Drama und Wilder Westen. Natürlich hätte van Duren die politischen und sozialen Zusammenhänge, die zum Aufstieg der Bande von Oss geführt haben und auch die politischen Verwicklungen intensiver ausleuchten können, um das Bild von jener Zeit zu vervollständigen. Zumal einige Facetten, wie zum Beispiel das reservierte Verhältnis der katholischen Nordbrabanter zu den, wie sie sagen, protestantischen „Holländern“ als Vertreter der Zentralgewalt, bis heute nachwirken. Im Krieg erwies sich das schwer zu bezwingende Oss später gar als eine Keimzelle des späteren Widerstands gegen die Nazi-Besatzer und deren Kollaborateure.
Andererseits entfaltet der andauernde Fokus auf Johanna und deren Umfeld, über das sich zunehmend bedrohliche Schatten legen, einen ganz eigenen Sog, auch dank der hervorragenden darstellerischen Leistungen, nicht zuletzt von Sylvia Hoeks in der Hauptrolle. Warum nur hat es dieser packende Thriller nie in die deutschen Kinos geschafft?
Info: The Gang – Auge um Auge (De Bande von Oss, Niederlande 2011), ein Film von André van Duren, mit Sylvia Hoeks, Matthias Schoenarts, Marcel Musters, Daan Schuumans u.a., ca. 110 Minuten. Ab 24.September auf DVD und Blu-ray.