Kultur

Vom schwindenden Wissen eines Nobelpreisträgers

von Dagmar Günther · 20. August 2007

Regelmäßig ruft der Doktor eine Nummer an. Es ist die einzige, die er sich merken kann. Er kennt die Frau, zu der sie gehört, sehr gut. Und für ihn ist es der sehnlichste Wunsch, ihr nah zu sein. Gretel, die am anderen Ende der Leitung abnimmt oder eben auch nicht, ist die geschiedene Frau des Doktors.

Erbarmungslose Erlebnisse

Erbarmungslos direkt beschreibt die Autorin Irene Dische in "Der Doktor braucht ein Heim" die erlebte Wahrheit eines an Alzheimer Erkrankten. Es ist nicht irgendein alter Mann, von dem sie erzählt. Es ist die Geschichte ihres Vaters.

In "seinen" Erinnerungen geraten Gegenwart und Vergangenheit durcheinander. Er kann die Frauen, die sein Leben prägten, nicht mehr auseinander halten. Nur seine Schwester Zesche ist immer dabei, sie folgt ihm auf Schritt und Tritt. Sie beurteilt die Beziehungen. Mag die Liebschaften ihres Bruders oder verabscheut sie. Aber Zesche ist tot. Ermordet von den "Banditen" des 20. Jahrhunderts in der Heimatstadt in Polen. Dem jüdischen Doktor gelang später die Flucht aus Wien nach Amerika. Er machte Karriere, bekam den Nobelpreis für Chemie und eine Tochter.



Emotionale Erinnerungen


Allein dieses Mädchen verbindet Gretel und ihren Ex-Mann. Aber Gretel ist manchmal gutmütig und so darf der Doktor sie besuchen.

Der Doktor meint im Hudson River mit 5 von seiner ersten großen Liebe getauft worden zu sein. - Dabei wohnte er damals an der Donau. Er bringt ALLES durcheinander: "Ein Geist ist kein Gegenstand, er ist ein Zustand."

Die Autorin, seine Tochter, beschreibt die Erinnerungen und Erlebnisse ihres Vaters sehr emotional. Sie schafft wundersame Satzkonstruktionen, in denen von "gieräugigen, verschwitzten, händereibenden Erwachsenen" und einem "wohlhabenden, gutmütigen, geistesabwesenden Nervenbündel" die Rede ist.

Und sie tritt in der Geschichte selber auf: Als Tochter besucht sie den greisen Nobelpreisträger regelmäßig, ohne dass er sie erkennt. Zeit und Personen vermischen sich in der Welt des Doktors. Nur manche Orte bilden eine Konstante: Das Labor, die Wohnung seiner Ex-Frau. Und schließlich das Heim.



Julia Kleinschmidt


Irene Dische: Der Doktor braucht ein Heim. Erzählung; Hoffmann und Campe; Hamburg 2007; Übersetzung: Reinhard Kaiser; gebunden 10 Euro; 48 Seiten; ISBN: 978-3-455-40084-7

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare