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Die ersten Sozialgesetze in Europa stammen nicht vom deutschen Reichskanzler Bismarck sondern von der englischen Königin Elisabeth I. Seit 1563 sind die Gemeinden auf der Insel verpflichtet, Männer zwischen 20 und 60, die keine Arbeit finden, zu beschäftigen. Es gibt eine steuerfinanzierte Armenhilfe und für jeden Mann unter 24 und für jede Frau unter 21 Jahren eine Lehrstelle. Zweihundert Jahre lang sind die Engländer stolz auf dieses System. Doch dann kommt der Liberalismus und mit ihm die Kritiker.

Die Fabrikanten sind sich einig

Einer von ihnen ist Jospeh Townsend. Er schreibt 1786 einen Aufsatz "Über die Armengesetze", der jetzt das erste Mal in deutscher Übertragung im Suhrkamp Verlag erschienen ist. KfW-Ökonom Philipp Lepenies, von dem das hilfreiche und kluge Nachwort stammt, nennt Townsends Schrift einen "der bemerkenswertesten Essays, die je über das Thema Armut geschrieben worden sind." Aber was ist so bemerkenswert an diesen Ratschlägen von einem längst in Vergessenheit geratenen Priester und Arzt aus dem 18. Jahrhundert?

Zu allererst ist es die Dreistigkeit, mit der Townsend argumentiert. "Alle Fabrikanten", so Townsend, "sind sich einig, dass die Armen selten Fleiß zeigen außer bei niedrigen Löhnen und hohen Getreidepreisen". Die Bedürftigen vergleicht der Kirchenmann mit "Faultieren" und meint zu wissen: "Dieses Geschöpf frisst die Blätter eines Baumes ab, ist aber so träge, daß es erst dann auf einen anderen klettert, wenn es bis auf Haut und Knochen abgemagert ist, und es bewegt sich so langsam, dass es nicht einmal durch Hiebe anzutreiben ist."

Nicht das Elend, sondern die Elenden bekämpfen

Townsend verbreitet aber noch allerlei andere Vorurteile. Er führt aus: "Die Trunksucht ist das übliche Laster der Armut. Wenn sie also, weil die Löhne gestiegen sind, mehr erhalten als unbedingt lebensnotwendig ist, geben sie das Übrige in der Bierschenke aus und kümmern sich nicht um ihre Arbeit." Der Zyniker, der seinem Pamphlet den Untertitel "Streitschrift eines Menschenfreundes" gegeben hat, erklärt, dass die Armut notwendig sei, um die Armen zur Auswanderung zu zwingen oder weniger Kinder in die Welt zu setzen und versteigt sich, gut ein halbes Jahrhundert vor Darwin, zu der Äußerung: "Der Landwirt nimmt für seine Rinderzucht nur die besten Tiere, unsere Gesetze aber wählen lieber die Schlechtesten für die Erhaltung aus und geben sich anscheinend alle Mühe, dass diese Unart nicht ausstirbt."

Offenkundig wäre es Townsend lieber, nicht das Elend, sondern die Elenden würden bekämpft. Also empfiehlt der "Menschenfreund" nur folgerichtig den Armen den Hunger. Denn: "Hunger zähmt die wildesten Tiere, Hunger ist ein Lehrer, von dem auch die Rohesten, Starrsinnigsten und Verworfensten noch Anstand, gute Sitten, Gehorsam und Unterwerfung lernen. Ein guter Diener muss nicht fürchten ohne Arbeit zu sein. Wenn ein Herr ihn aus seinen Diensten entlassen sollte, werden andere ihn gern übernehmen." Und schließt seinen Essay mit den Worten: "Wenn die Armen verpflichtet sind, die Freundschaft der Reichen zu pflegen, wird es den Reichen nie an Geneigtheit fehlen, das Elend der Armen zu lindern." So eingeschüchtert und gefügig, so eingebunden in die Sklavenstrukturen von Abhängigkeit und Gnade wünscht Townsend sich seine Engländer.

Geboren ohne goldenen Löffel im Mund

Dagegen hielt Karl Marx. Der setzt sich im "Kapital" ausführlich mit Townsend auseinander, macht sich über den "fetten Pfründer" lustig und bringt das Townsend-Zitat "Es scheint ein Naturgesetz, dass die Armen zu einem gewissen grad leichtsinnig sind", zuende: "nämlich so leichtsinnig, auf die Welt zu kommen ohne goldene Löffel im Mund".

Die Auseinandersetzung mit Townsend lohnt auch 2011 noch. Schon deshalb, weil die Argumente, die der selbsternannte Gesellschaftstheoretiker aus dem 18. Jahrhundert vorbringt, auch die von heute sind. Wenn Townsend prophezeit, es werde Herden von Armen geben, die an einem Leben von der Fürsorge gefallen finden und sich darin einrichten, entspricht das dem westerwelleschen Gerede von der "spätrömischen Dekadenz" der Bedürftigen, nicht den Tatsachen. Die Stigmatisierung der Armut, die in Townsends England dazu führte, dass einzelne Gemeinden die Leistungsempfänger zwangen, mit einem roten "p" für "pauper" auf der Schulter gekennzeichnet durch die Straßen zu laufen, besteht bisheute fort.

Vom freien Spiel der Kräfte und der Allmacht des Marktes

Und selbst das Globalisierungsargument, niedrige Löhne seien nötig, um die Abwanderung der Arbeitsplätze ins Ausland zu verhindern, führt schon Townsend ins Feld. ("Da Irland billige Arbeitsplätze habe und nicht mit einer Armensteuer belastet sei, könne das Land uns auf dem Markt unterbieten und damit unsere Manufakturen in den Ruin treiben.") Überbevölkerung, Armut, sozialer Unfriede, alles kommt von alleine in Ordnung, wenn man nur das freie Spiel der Kräfte zulässt. Philipp Lepenies beschreibt treffend, der Grundirrtum Townsends sei, dass "Gesellschaften funktionieren wie Märkte". Tatsächlich funktionieren so nicht einmal Märkte.

Townsend riet 1786 die Armenhilfe abzuschaffen. 1834 war es so weit. Die Unterstützung wurde gestrichen und die Hungernden wie sonst überall in Europa in Armenhäusern zusammengepfercht, Bettelei unter Strafe verfolgt.

Joseph Townsend: "Über die Armengesetze. Streitschrift eines Menschenfreundes", Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin, 2011, 124 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3-518-29582-3

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