Europa sowie europäische Identität meint mitnichten für alle dasselbe. Genau diese unterschiedlichen Blickwinkel machten den Reiz der Veranstaltung aus. Weil "wir nicht nur als Politiker,
sondern generell als Europäer in unserer Selbstwahrnehmung blinde Stellen haben ... wollen wir den Austausch", regte Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Diskussion an. Es gab
Übereinstimmungen und Überschneidungen - aber keine deckungsgleichen Auffassungen von Europa und Europäern, als die Schriftsteller Assia Djebar, Carlos Fuentes, Imre Kertész, Elias Khoury, György
Konrád, Andrzej Stasiuk, Ilija Trojanow und der Sozialwissenschaftler Wang Hui sowie Schauspieler Mario Adorf darüber sprachen, was Europa für sie bedeutet.
So war Ilja Trojanow sicher, dass "feste Identitäten wie Handschellen sind." György Konrád hingegen wüsste nicht, was er sonst sei, wenn nicht ein Europäer. Was er allerdings besonders
genieße, sei die Tatsache, "ein Pendler" zu sein, innerhalb Europas.
"Grenzen überschreiten, und doch Europäer sein", ist auch für Andrzej Stasiuk zentral. Seine Identität zu definieren fällt dem in Polen lebende und geborene Stasiuk nicht ganz leicht. In
Deutschland sei er Pole, in Russland dagegen fühle er sich viel mehr als Deutscher. "Ich bin eine Mischung, ein Mensch der Grenzregionen", erklärte er sich. Europa kann aus seiner Sicht nur von den
Rändern aus begriffen werden. An den Rändern habe man die Wahl, "die Möglichkeit zum Polygamisten", unterstützte Trojanow diese Sicht.
Vielfalt der Kulturen, Einheit der Werte?
Eine homogene Masse ist Europa sicher nicht. György Konrád hält selbst die homogenen Nationalstaaten innerhalb Europas für "eine ideologische Lüge". Trotzdem habe Europa gemeinsame Interessen
und Werte. Und es biete als Gemeinschaft größere Sicherheit. Die Herausforderung, so Konrád, liege darin, "solidarische und interessierte Nachbarn zu werden. Im anderen uns selbst zu erkennen."
Steinmeier hatte davon gesprochen, die Differenzen nicht als Unglück, sondern als Chance zu betrachten."
Zu wenig europäische Politiker gebe es, bedauerte Konrád, die meisten seien immer noch nationale Politiker. Für Stasiuk ist Europa stets viel zu sehr Westeuropa. Er findet Mittel- und
Osteuropa weit interessanter, alles sei viel dynamischer da. Es sei ihm wohl bewusst, dass eine Niederlage leichter zu teilen sei, als ein Sieg. Europa sei gemeinsam gefallen, "aber nur ihr seid
aufgestanden", erklärte er mit Blick auf Westeuropa.
Imre Kertész verwies darauf, dass Europa zögere, das Erbe, das der sowjetische Koloss hinterlassen hat, anzunehmen. Diese Länder blieben sich selbst überlassen - was Europa bis heute präge.
Der "jugoslawische Völkermord", so Kertész, habe das deutlich gezeigt. Für eine neue europäische Kultur, für ein starkes, selbstsicheres Europa, "müssen wir uns unsere Werte selbst schaffen, Tag
für Tag."
"Alle Nationen Europas erleben dasselbe gemeinsame Schicksal, aber jede Nation erlebt es aufgrund ihrer jeweiligen Erfahrungen anders", zitierte Steinmeier Milan Kundera. Und betonte, dass es
wichtig sei, anderen "mit Respekt vor ihren Traditionen und ihrer Kultur" zu begegnen.
In diesem Sinne, ist es kein Problem, dass man sich nicht auf eine "Perspektive Europa" einigen konnte. Ganz im Gegenteil, schließlich ist es gerade die Vielstimmigkeit, die Europa ausmacht.
Birgit Güll
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