Kultur

Vielfalt und Teilhabe

Globalisierter Markt und digitaler Kapitalismus tendieren dahin, auch den Bereich der Kultur vollends in den Griff zu bekommen. Wir dürfen aber die öffentliche Verantwortung für Kunst und Kultur nicht aufgeben oder als bloße kommerzielle Dienstleistung organisieren.
von Wolfgang Thierse · 28. Januar 2015
Kultur für alle? Wie muss sich sozialdemokratische Kulturpolitik in Zeiten von knappen Kassen und Digitalisierung positionieren?
Kultur für alle? Wie muss sich sozialdemokratische Kulturpolitik in Zeiten von knappen Kassen und Digitalisierung positionieren?

Seit ihren Anfängen war die Arbeiterbewegung und mit ihr die Sozialdemokratie immer auch eine Bildungs- und Kulturbewegung: Teilhabe an Bildung und Kultur galt ihr als ein notwendiges Moment von sozialer Gerechtigkeit.

Ein kurzer Rückblick

Insbesondere das „goldene Jahrzehnt“ der Sozialdemokratie, die Ära Brandt/Schmidt der 70er Jahre, war eine Zeit großer sozialdemokratischer Kulturpolitik. Aus ihr stammen die Losungsworte „Kultur für alle“, „Bürgerrecht Kultur“, „Kulturpolitik heißt ermöglichen“. Die Ziele waren: Demokratisierung der Kultur, Kultur von unten, Stärkung der Soziokultur, Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Den Menschen als kulturell aktives Subjekt ernst zu nehmen und kulturpolitische Planung auf ihn auszurichten, darum ging es in dem, was man „Neue Kulturpolitik“ nannte.

Damals galt der Ausbau der staatlichen Infrastruktur gegen die „öffentliche Armut“ als entscheidende Dimension von Gerechtigkeit. Diese „Neue Kulturpolitik“ hatte gewissermaßen zwei Seiten: Sie war einerseits etatistisch, weil sie mit der Prämisse eines wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsdenkens verbunden war, und sie hatte andererseits eine eher bürgerschaftlich-zivilgesellschaftliche Seite, insoweit die Kommunen die Hauptakteure waren und die frei-gemeinnützige Kulturszene als förderungswürdig anerkannt wurde.

Die Definition dessen, was Kulturpolitik ist, kennen wir seitdem: Staatliches und kommunales Handeln im Bereich Kunst und Kultur in Form ihres Schutzes sowie der Sicherung und Gestaltung ihrer politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auch die Warnung vor der Instrumentalisierung von Kunst durch politische und ökonomische Macht ist nicht neu und bleibt richtig. Kulturpolitik soll der Autonomie der Kunst dienen, deren Selbstzwecksetzung.

Veränderte Bedingungen

Anders als in dem die sozialdemokratischen Vorstellungen von Kulturpolitik prägenden Jahrzehnt können heute hohe Wachstumsraten und Haushaltszuwächse kulturpolitische Verteilungskonflikte nicht mehr lösen. Zumal auch Ernüchterung eingetreten ist. Trotz aller Anstrengungen erscheint die kulturelle Spaltung wie versteinert: 50 % (Viel-)Nutzer und 50 % Nichtnutzer öffentlicher Kunst- und Kulturangebote.

Neben dem geringeren (öffentlichen) finanziellen Spielraum ist es der demographische Wandel, der Veränderungen in Nachfrage und Angebot, in kultureller Infrastruktur verlangt und bewirkt. Vor allem aber ist es der umgreifende Prozess der Globalisierung, der die Bedingungen von Kultur und Kulturpolitik radikal verändert: Widersprüchliche Pluralität von Kulturen, Religionen, sozialen Lagen, die durchaus konfliktgeladene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen; Digitalisierung der Kommunikation, der Produktion und Rezeption von Kultur; Veränderung der Konkurrenzbedingungen und Forcierung neoliberalen Denkens; demokratiepolitische Ambivalenz und Risiken des digitalen Kapitalismus. Das alles verändert die Handlungsspielräume nationaler Kulturpolitik, ja stellt sie infrage (TTIP!).

Leitbilder für sozialdemokratische Kulturpolitik heute

Was kann angesichts dessen „Kulturpolitik heißt ermöglichen“ heute bedeuten? (Neue) Entscheidungen sind (wieder) notwendig. Kulturpolitik muss mehr denn je Kommunikation sein, besteht mehr denn je aus Aushandlungsprozessen.

Notwendig scheint mir wiederum eine Phase kulturpolitischer Neuorientierung. Worin liegen Alternativen zur bloßen Entlastung des Staates von Aufgaben und Kosten, letztlich also zum bloßen Kulturabbau? Wie kann verhindert werden, dass das Soziale gegen das Kulturelle ausgespielt wird? Wie kann angesichts der Digitalisierung kulturelle Vielfalt erhalten bleiben? Das Anknüpfen an Debatten der letzten 25 Jahre – um Zivilgesellschaft, Modernisierung des staatlichen Handelns, bürgerschaftliches Engagement, vorsorgender und aktivierender Staat, schrumpfende Städte und Regionen – kann dabei hilfreich sein.

Häufig jedoch wird Kulturpolitik auf Fragen der finanziellen Kulturförderung konzentriert und reduziert. Das ist der kulturpolitische Alltagskampf, denn mit der Unterfinanzierung von Haushalten wird nicht nur der Sozialstaat, sondern auch der Kulturstaat in Frage gestellt. Die Haltung, in der Defensive das Schlimmste zu verhindern, ist verständlich, aber nicht ausreichend. Die Erfahrung seit der deutschen Einheit zeigt: Man wird nichts wirklich retten, wenn als Alternative zur sofortigen Schließung nur die schleichende Auszehrung etablierter Kulturinstitutionen durch finanzielle Austrocknung, Reformverweigerung und inhaltliche Stagnation treten würde!

Ich plädiere für eine Einstellungsveränderung: Öffentliche Finanznöte, demographischer Wandel, Globalisierung mit ihren widersprüchlichen Folgen nicht vor allem oder nur als Bedrohung zu sehen, gegen die es sich zu wehren gilt, sondern auch als eine Chance. Auch in der Kulturpolitik sind wir eben gezwungen, grundsätzlich über diese selbst nachzudenken und alles Eingefahrene auf den Prüfstand zu stellen. Welche Prioritäten sind uns eigentlich wichtig? Eine (Rück-) Besinnung auf kulturpolitische Werte und Leitideen steht an. Wir werden den Kampf um das knapper werdende Geld jedes Mal verlieren, wenn wir Werte und Leitideen nicht klar formulieren können.

Erstes Leitbild sozialdemokratischer Kulturpolitik: Vielfalt

In den weltpolitischen Auseinandersetzungen und Gefährdungen der Gegenwart spielen Kulturfragen eine außerordentliche Rolle. Dialog der Kulturen und kulturelle Integration sind Aufgaben, nicht nur der Auswärtigen Kulturpolitik, sondern vor allem auch im eigenen Land.

Die sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgen der Einwanderung werden nicht zu bewältigen sein, wenn wir kulturelle Vielfalt mit inhaltlicher Beliebigkeit und Standpunktlosigkeit verwechseln. Vielfalt wird nur möglich sein, wenn wir uns unserer geistigen Wurzeln aus Humanismus, Aufklärung und christlich-jüdischer Tradition versichern. Nur ein gleichzeitig wertefundiertes wie tolerantes Kulturverständnis kann sich gegen einen eindimensionalen Kulturbegriff behaupten, der Kultur und Religion zur Begründung von Ausgrenzung missbraucht. Der interkulturelle Dialog auf der Basis humanistischer Grundwerte ist Voraussetzung für das Gelingen kultureller Integration.

Das Leitbild Vielfalt meint also ganz grundsätzlich die Bereitschaft, zweierlei miteinander zu verbinden: Offenheit für Veränderung, für Neues, für (bisher) Fremdes und die Fähigkeit zu wertbegründeten Entscheidungen.

Der Kampf um Schutzmechanismen und gewachsene Fördersysteme für Kultur und Medien, um nicht alles der Liberalisierung und Deregulierung anheimfallen zu lassen (daher TTIP als kulturelles Problem), und deren notwendige Anpassung an die Digitalisierung (wie beim Urheberrecht) - das sind heute Schlüssel-Aufgaben von Kulturpolitik.

Vielfalt zu ermöglichen und zu verteidigen heißt, sich auf die Seite dessen zu stellen, was ohne Unterstützung und Förderung keine Chance hat oder verloren zu gehen droht. Es geht also darum, Balancen zu wahren: zwischen Repertoire und Innovation, zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, zwischen Lebenswelt und „Artworld“ und zwischen Projekt und Institution, zwischen öffentlich geförderter und kommerziell getragener Kultur, zwischen Bund und Ländern, zwischen Metropole und Region.

Zweites Leitbild sozialdemokratischer Kulturpolitik: Teilhabe

Ernüchtert müssen wir feststellen: Die Vorstellung, es entstünde eine Kulturgesellschaft, wenn nur das Angebot der Künste weiter ausgebaut werde, gehörte offenbar zu den großen illusionären Versprechungen der Vergangenheit. Der Einbezug aller in das kulturelle Leben ist heute in größerer Ferne denn je. Die anhand sozialer Kriterien bestimmbaren Spaltungen der Bevölkerung haben zutiefst eine kulturelle Dimension. Darauf müssen Sozialdemokraten reagieren!

Exklusion ist gleichermaßen ein soziales wie ein kulturelles Phänomen. Es geht um die in der Schule Zurückgebliebenen, die weniger Gebildeten, um viele mit Migrationshintergrund, um Viertel und Stadtteile, die zu sozialen Brennpunkten wurden, um Parallelgesellschaften ganz unten, um enttraditionalisierte Arbeitermilieus mit apathischer bis aggressiver Distanz zur Mehrheitskultur, um Langzeitarbeitslose, um die typischen Hartz-IV-Karrieren, manchmal bereits in der dritten Generation. Sozialtransfers allein werden die Situation nicht verbessern, es kommt vielmehr auch auf kulturelle Bildung und musische Erziehung an: Diese werden entscheidende Aufgaben teilhabeorientierter Kulturpolitik und zu einem Schlüssel für die Zukunft sozialer Gerechtigkeit. Kulturelle Bildung ist eine sozialpolitische Aufgabe geworden, eine Aufgabe von Gerechtigkeitspolitik, bei deren Lösung gerade auch die Chancen der Digitalisierung zu nutzen sind (ohne deren Gefahren zu übersehen).

Drittes Leitbild sozialdemokratischer Kulturpolitik: Öffentliche Verantwortung

Globalisierter Markt und digitaler Kapitalismus tendieren dahin, auch den Bereich der Kultur vollends in den Griff zu bekommen. Wir dürfen aber die öffentliche Verantwortung für Kunst und Kultur nicht aufgeben und Kunst und Kultur nicht als bloße kommerzielle Dienstleistung organisieren.

Der Begriff öffentlicher Güter bietet dafür einen strategisch richtigen und fruchtbaren konzeptionellen Ausgangspunkt. Viele öffentliche Güter sind volkswirtschaftlich Infrastrukturgüter. Klassisch gehören Straßen und Brücken, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser dazu, aber auch die gewachsene institutionelle Kulturlandschaft und Kunstförderung, wie auch die Wissenschafts- und Forschungsförderung, die sowohl der privaten Wirtschaft, als auch dem Erwerbstätigen, dem einzelnen Bürger zugute kommen. Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einer erfolgreichen modernen Wirtschaft hängen künftig immer mehr vom Niveau öffentlicher Investitionen in das Arbeitsvermögen (dem „Humankapital“) der Gesellschaft ab, in den nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, in die sozialen - Familie und Kinder, deren Bildung und kulturelles Niveau fördernden - Strukturen.

Wenn dies - Investitionen in öffentliche Güter - als ökonomisch sinnvolle Strategie akzeptiert ist, sollte sich nicht mehr die Frage stellen, ob der Staat sich diese Investitionen ökonomisch leisten kann: Wenn er sie sich nicht leistet, wird ihm künftig mehr als das fehlen, was er heute spart. Eine humane Gesellschaft ist nur möglich, wenn öffentliche Güter ausreichend und in großer Vielfalt bereitgestellt werden. Dies schafft den kulturellen und sozialen Zusammenhalt, der für eine vitale Demokratie unverzichtbar ist und stützt das Kooperationsgefüge der Bürgerschaft.

Der Reichtum kultureller, sozialer, demokratischer Güter macht die Lebensqualität unserer Städte und Gemeinden aus. Privatisierung und Kommerzialisierung zerstören dagegen tendenziell öffentliche Räume und damit urbane Qualität. Öffentliche Museen, Theater, Volkshochschulen und Stadtbibliotheken sind Güter, an denen alle Bürger ein gemeinsames Interesse haben. Eine große Mehrheit der Bevölkerung ist bisher immer noch bereit, ihren finanziellen Beitrag zu leisten, um ihre Bildungs- und Kultureinrichtungen auf hohem Niveau zu erhalten.

Unser Weg

Es gilt, Kulturpolitik neu als Vermittlungsaufgabe zu verstehen, wozu es einerseits der Öffentlichkeit verpflichtete selbstbewusste Vermittlungsinstitutionen bedarf, die jedoch andererseits in der Lage sein müssen, vielfältige Akteursnetzwerke, mit ihren Mechanismen der Selbstkoordination und Vereinbarung, zu spinnen. Gerade die Kulturpolitik ist ein hoch fragmentiertes Gebilde aufgrund der föderalen Kompetenzverteilung, angesichts unterschiedlicher Ressortzuständigkeiten, des Bedeutungsgewinns der Verbände, der Delegation von Aufgaben an Mittlerorganisationen und intermediäre Instanzen.

Die Alternative ist eben nicht Verstaatlichung oder Privatisierung, vielmehr geht es um die Neujustierung des Verhältnisses von staatlicher bzw. kommunaler Politik, gesellschaftlicher Selbstverantwortung und marktwirtschaftlichen Mechanismen. Öffentliche Güter meint nicht automatisch nur staatliche oder gar verstaatlichte Güter, sondern meint gemeinschaftliche, eben politische Verantwortung für ihre Zugänglichkeit. Öffentliche Verantwortung ist nicht notwendig nur Staatshandeln. Politisches Handeln ist nicht per se mit dem Staat gleichzusetzen. Die „Selbstorganisation des Politischen“ (Ulrich Beck) tritt hinzu, etwa durch die verstärkte Einbindung ehrenamtlich-bürgerschaftlichen Engagements in die kulturellen Aktivitäten oder durch die „Verantwortungspartnerschaft“ bei Finanzierung und Trägerschaft von Kultureinrichtungen.

Autor*in
Wolfgang Thierse

war 1990 Vorsitzender der SPD in der DDR, von 1990 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender der SPD und von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestags.

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