Kultur

„Verteilungskampf“: Wie Deutschland sich selber schwächt

Arm gegen reich, jung gegen alt, Mann gegen Frau: In Deutschland wird an vielen Fronten gekämpft. Grund dafür sind systematische Ungleichheiten. Sie schaden Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen.
von Robert Kiesel · 15. März 2016
Die Schere zwischen arm und reich
Die Schere zwischen arm und reich

Quizfrage: Aus welchem Land der Europäischen Union stammen folgende Werte?

- das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt 30 Prozent des gesamtgesellschaftlichen Nettovermögens

- die ärmere Hälfte der Bevölkerung verfügt praktisch über kein Nettovermögen

- die Hälfte aller Arbeitnehmer der Landes verliert seit 15 Jahren real an Kaufkraft

- 15 Prozent der Bevölkerung leben in Armut

Die Auflösung: Es handelt sich um Deutschland im Jahr 2016. Mit seinem Buch „Verteilungskampf“ macht Marcel Fratzscher die in der Bundesrepublik klaffenden Gerechtigkeitslücken in Bezug auf Vermögen, Einkommen und Aufstiegschancen zum Thema. Gleichzeitig fordert der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Trendumkehr zum Wohle der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft.

Mehr statt weniger Ungerechtigkeit

Fratzschers Analyse ist hart: „Deutschland ist schon lange kein Land mehr, das ‚Wohlstand für alle’ bietet. Aus dem ‚Wohlstand für alle’ ist ‚Wohlstand für wenige’ geworden“, schreibt der DIW-Chef in der Einleitung seines Buches. „Die soziale Marktwirtschaft existiert heute nicht mehr. Sie ist ein Ideal, das wir heute um Längen verfehlen“, legt Fratzscher bei der Vorstellung von „Verteilungskampf“ nach. „Die Ungleichheit intensiviert und verstetigt sich.“

Fratzscher wäre nicht Chef des DIW, wenn er die negativen Folgen dessen nicht zuerst aus wirtschaftlicher Perspektive betrachten würde. Laut OECD sei durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um sechs Prozent geringer. Beschäftigung, Einkommen und Wachstum könnten weit höher sein, ginge es in Deutschland gerechter zu, so Fratzschers These.

Schulz: „Anstrengung muss sich lohnen“

Ein Befund, den auch der prominenteste Gast der Buchvorstellung, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, teilt. Schulz nannte Fratzschers Werk ein „provozierendes Buch“, dessen Thesen „frontal gegen den Mainstream des ‚Uns geht es doch eigentlich gut’“ gehen. Der Realität, wonach Deutschland eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt sei, müsse man ins Auge schauen. Besonders fatal aus seiner Sicht: „Anstrengung lohnt sich häufig nicht, wir haben kaum Aufstiegschancen.“ Einen Tag nach dem Triumph der AfD bei den Landtagswahlen warnte Schulz davor, dass die fehlende „Durchlässigkeit der sozialen Milieus“ den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gefährde.

Eine Debatte entzündete sich an der Frage, welchen Einfluss die „Digitale Revolution“ auf die Verteilung von Chancen und Wohlstand nimmt. Während Schulz von „dramatischen Veränderungen“ für Leben und Arbeitsmarkt sprach, die schwer erkämpfte Arbeitnehmerrechte gefährdeten, betonte Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) die Einspareffekte der Digitalisierung. Mit Blick auf die Befunde des Buches „Verteilungskampf“ erklärte Spahn: „Deutschland als soziales Notstandsgebiet darzustellen, ist vielleicht etwas überzeichnet. Wir haben einen der besten Sozialstaaten, die es gibt.“

Fratzscher: Wohlstand macht träge

Fratzscher wiederum nutzte die Gelegenheit, einen Blick in die Zukunft zu wagen: „Die Gefahr ist groß, dass wir deutlich an Wohlstand verlieren werden“, warnte er angesichts einer „gewissen Überheblichkeit“, die sich in Deutschland dank der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Stellung breit mache. „Uns geht es gut, gerade das macht uns träge“, erklärte Fratzscher weiter und forderte dazu auf, „systematische Ungleichheit“ wie die deutlich geringere Besteuerung von Kapital und Vermögen im Vergleich zur Arbeit anzugehen. 

Martin Schulz wiederum zog angesichts der drängenden Herausforderungen im Bereich von Teilhabe und Gleichberechtigung den Schluss: „Das sozialdemokratische Zeitalter ist nicht nur nicht vorbei, es steht gerade erst bevor.“

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Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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