Kultur

Verstärkte Depression

von Joris Steg · 19. September 2009
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Im Mittelpunkt des Gesellschaftsromans "Tunnelblick" steht das Schicksal der Familie Kellermann aus dem Bremer Stadtteil Vegesack. Die Familie, in deren Tradition fast alle Mitglieder in der Werft gearbeitet hatten, wird von dem Zusammenbruch der Werft hart getroffen. Der Ingenieur Eberhard zählt zu den ersten, die entlassen werden. Er fällt in eine tiefe Depression, die durch seine Augenkrankheit, den Tunnelblick, noch verstärkt wird.

Die Werft ist das Leben

Ortskundig und detailgetreu beschreibt Ria Neumann in ihrem neuesten Buch die gravierenden Folgen von dem Aus der Vulkan-Werft. Mit der Werft blühte das Leben in Vegesack auf. Sie bestimmte das Leben vieler Familien. Mit dem Zusammenbruch des Vulkan kommt das Leben der Arbeiter und ihrer Familien aus dem Tritt.

Auch für Eberhard Kellermann war die Werft sein Leben. Schon sein Vater und sein Großvater arbeiteten dort als Schiffbauer und er setzte die Familientradition als Ingenieur fort. Mit seiner plötzlichen Entlassung gerät alles aus den Fugen. Die Arbeitslosigkeit führt bei Eberhard zu Resignation, er fällt in eine tiefe Depression. Seine Frau Linde wehrt sich mit ihrer zupackenden und engagierten Art gegen das Klagen ihres Mannes und das Schicksal der Familie. Doch Eberhard fühlt sich einsam und nutzlos, weil er keine Aufgabe mehr hat. Er denkt, dass er nicht gebraucht wird. Zu den emotionalen kommen finanzielle Probleme - das neue Haus ist nicht abbezahlt. Der Tunnelblick, seine Augenkrankheit, verschlimmert den ohnehin schwer zu bewältigenden Alltag. Er findet Trost in einer Affäre mit Malwine, einer Freundin von Linde. Später ertränkt er seinen Kummer im Alkohol. Den Kindern bleiben die existenziellen Probleme der Familie nicht verborgen. Auch sie stehen vor einer unsicheren Zukunft.

Gelingt es der Familie, diese Existenzkrise zu meistern? Ist die Ehe von Linde und Eberhard noch zu retten? Können die Kinder dem Strudel aus Arbeitslosigkeit und Resignation entkommen? Der lebensnahe und mit viel Lokalkolorit geschriebene Gesellschaftsroman gibt zum Ende des Buches Antworten auf diese Fragen. Dabei wendet sich einiges zum Guten.

Der Tunnelblick ist doppeldeutig

In der Augenheilkunde bezeichnet der Tunnelblick, medizinisch besser bekannt als Retinopathia pigmentosa (RP), eine fortschreitende Degeneration der Netzhaut. Eberhardt hat infolgedessen ein enorm verengtes Sichtfeld. Was dazu führt, dass er häufig Leute auf dem Gehweg anrempelt.

Umgangssprachlich bezeichnet der Tunnelblick die Unfähigkeit, Sachen und Personen wahrzunehmen, die außerhalb der persönlich relevanten Dinge liegen. Bei Eberhard ist damit dessen Unfähigkeit gemeint als Arbeitsloser, seinen Horizont zu erweitern und aktiv Wege aus der Krise zu suchen. Stattdessen verfällt er in Resignation und die Depression.

Die Autorin verwendet den Begriff Tunnelblick, den sie auch als Buchtitel wählt, also in doppeldeutigem Sinne. Ihr ist ein Gesellschaftsroman gelungen, der eindrücklich und detailliert die gravierenden Folgen der Arbeitslosigkeit für die Arbeiter und ihre Familien beschreibt. Das behandelte Thema ist noch dazu hochaktuell, weil mit der Situation der Wadan-Werft mit den Standorten in Wismar und Rostock vergleichbar. Die Antworten auf die existenzielle Krise der Familie Kellermann hätten allerdings ausführlicher sein. Für den Leser wäre wünschenswert gewesen, dass die positive Wendung am Ende des Buches einprägsamer, detaillierter und lebhafter beschrieben worden wäre.

Joris Steg

Ria Neumann. Tunnelblick. Donat Verlag 2009, 140 Seiten, 12,80 Euro. ISBN: 978-3-938275-56-6

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Joris Steg

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