Kultur

Versäumte Küsse

von Birgit Güll · 6. August 2012

Ein jüdischer Vater schreibt seinen beiden Kindern aus dem Gefängnis. Es ist das Jahr 1942, die Nationalsozialisten haben Pali Meller inhaftiert. „Also Kopf hoch – schon damit ich Dich von oben bis unten abküssen kann“, sucht er die Kinder aufzuheitern. Er wird sie nie mehr sehen. 1943 stirbt er im Gefängnis. Geblieben sind die Briefe, nun wurden sie veröffentlicht.

Pál Meller, Pali genannt, stammt aus einem großbürgerlichen, assimilierten jüdischen Elternhaus im ungarischen Sopron. Sein Architekturstudium führt ihn nach Wien, Köln und Rom. In Den Haag lernt der Architekt seine Frau kennen, gemeinsam geht das Paar 1929 nach Berlin. In der Metropole der Weimarer Republik wird 1930 ihr Sohn Paul, Pila genannt, geboren, vier Jahre später Barbara, die Barra gerufen wird. Privates Glück, beruflicher Erfolg – Pali Meller arbeitet für den angesehenen modernen Architekten Otto Braning. All das ist in dem informativen Nachwort der Herausgeberin Dorothea Zwirner zu lesen.

Denunziert und verhaftet

1933 kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Meller ist mehr schlecht als Recht durch seine Ehe mit einer „Arierin“ und Katholikin geschützt. 1935, bei einem gemeinsamen Autounfall, stirbt Mellers Frau. Kurzfristig sind die beiden Kinder im Heim, doch Meller holt sie zu sich, erzieht sie unterstützt von der Haushälterin Franziska Schmitt. Mit einem gefälschten „arischen Herkunftsnachweis“ tritt Meller in die Reichskulturkammer ein, nur so kann er seinen Beruf weiter ausüben.

Zwirner schreibt in ihrem Nachwort, dass selbst enge Freunde nichts von Mellers jüdischer Abstammung wussten. Ganz geheim konnte diese aber nicht gewesen sein, denn Meller wird denunziert. Es liege nahe, schreibt Zwirner, dass der Vater einer Geliebten, ein überzeugter Nationalsozialist, der Verräter sei.

Briefe aus dem Gefängnis

Der gefälschte Herkunftsnachweis und „Rassenschande“ – so stuften die Nationalsozialisten Liebesbeziehungen von Juden mit „Ariern“ ein – werden Meller zur Last gelegt. Er wird inhaftiert und später verurteilt. Franziska Schmitt kümmert sich um die beiden Kinder. Pali Meller schreibt ihnen Briefe: „Es kann sein, dass ich noch lange von Euch fortbleibe. Aber ich werde Euch schreiben, und ich werde auch von Euch hören. Ihr 3 müsst aber wie Pech und Schwefel zusammenhalten, und ihr müsst Franzi blind gehorchen.“

So gut es geht bemüht Meller sich um Normalität. Er schreibt lange Briefe, jeweils ein Teil ist an Paul gerichtet, der andere an Barbara. Er analysiert Pauls Gedichte, gibt Literaturtipps und rät dem Jungen zu mehr Bewegung im Freien („und beim Schwimmen daran denken: ‚langsam aber feste’, ‚geschlossene Hände’, ‚Wasser nach außen schlagen...’“). Schulnoten und Berufswünsche interessieren ihn ebenso wie Barbaras Fortschritte beim Schreiben. Er weiß, dass seine Ratschläge bei den Kindern wohl nicht nur beliebt sind: „Ich sehe Pila vor mir, wie er wieder lacht! Über seinen predigenden Vater.“

Trost und Fürsorge auf dem Postweg

Dann erinnert er an gemeinsame Ausflüge und versichert den Kindern seine Zuneigung. Überhaupt sind die Briefe alles andere als steif. Er spricht die beiden mit allen möglichen Variationen ihrer Kosenamen an („mein Pilafreund“, „geliebte Langschreibebarra!“), es wimmelt von Küssen, die er schickt („seid mit beide 1000-mal geküsst“, „Es küsst Euch beide mit inniger Liebe: Papa“).

Die Kinder schreiben lange Briefe zurück. Sie sind nicht erhalten, doch Pali Meller geht genauestens darauf ein. Er drängt darauf, dass die Kinder, besonders Paul, über ihre Gedanken und Sorgen sprechen, will wissen was in ihnen vorgeht. Er tröstet so gut er kann: Rückblickend wirke alles kurz, schreibt er an Paul, so werde es auch mit der Trennung sein. „Und wir werden uns das Leben schon lebenswert machen, mein Alter!“. Barra erklärt er, dass die meisten Väter im Krieg seinen und weniger schreiben könnten als er. Sie müsse die Trennung in Kauf nehmen wie sie, die Turnunterricht bekommt, einen Sturz auf den Kopf beim Salto in Kauf nehmen müsse.

Die eigene Verzweiflung versucht er so gut es geht zu verbergen: „Bald habe ich Geburtstag und werde keinen Gutenmorgenkuss von Euch haben. Aber geschenkt wird nichts! Heb ihn mir gut auf – eines Tages komme ich und hole mir alle versäumten Küsse... Bis dahin bleibt es bei Papierküssen – und davon schickt Dir diesmal 365 Stück Dein Dich liebender Papa.“

Die Fratze des Nationalsozialismus

Im März 1943 stirbt Pali Meller im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Lungentuberkulose ist als Ursache im Sterbeeintrag vermerkt. Franziska Schmitt kümmert sich um die beiden Kinder, sie schützt sie und zieht sie groß. 1952 erwirkt sie, dass das Nazi-Urteil gegen Pali Meller aufgehoben wird. 1974 stirbt Franziska Schmitt im Alter von 68 Jahren. Ihre beiden Schützlinge bleiben in Deutschland. Paul stirbt 2002, Barbara nur wenige Monate später.

Der Band „Papierküsse. Briefe eines jüdischen Vaters aus der Haft 1942/43“ erzählt von nichts geringerem als von der Liebe. Er ist zugleich ein bedrückendes Zeugnis der Unmenschlichkeit, in den Briefen spiegelt sich die Fratze des Nationalsozialismus. Ein lesenswertes Buch, ein wichtiges Dokument.

Pali Meller: „Papierküsse. Briefe eines jüdischen Vaters aus der Haft 1942/43“ Herausgegeben von Dorothea Zwirner, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 133 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-608-94699-4


Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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