Kultur

Vergessene Opfer

von ohne Autor · 21. Juni 2007

Von den fast sechs Millionen Rotarmisten, die bis zum Kriegsende in deutsche Gefangenschaft gerieten, starben mehr als drei Millionen - sie erfroren, verhungerten, wurden erschossen oder durch Arbeit vernichtet. Als "Untermenschen" verfemt, wurden sie von den Nazis grausam misshandelt. Akuter Arbeitskräftemangel führte dazu, dass die Deutschen die sowjetischen Gefangenen als Zwangsarbeiter einsetzten.

"Im Lager wurde ich schlimmer als Vieh behandelt", beklagt der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Iwan Michajlowitsch Karpow. "Sie betrachteten uns als Untermenschen ... Bis heute ist mir unbegreiflich, wie sehr ein Mensch den anderen Menschen erniedrigen kann", so Michail Iwanowitsch Leontjew.

Wegen der unmenschlichen und völkerrechtswidrigen Bedingungen waren die Sterblichkeitsraten exorbitant hoch. Die sowjetischen Kriegsgefangenen sind nach den europäischen Juden die zweitgrößte Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus. Wer Überlebte, wurden nach der Heimkehr in Stalins Sowjetunion häufig als "Vaterlandsverräter" verfolgt oder diskriminiert.

Kontakte

20 000 der überlebenden Zwangsarbeiter haben einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Ihre Anträge wurden abgelehnt: Ehemalige Kriegsgefangene sind von den Zahlungen aus der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" ausgenommen. Das Stiftungsgeld, etwa fünf Milliarden Euro, stammt zu gleichen Teilen von der Deutschen Bundesregierung und von der Wirtschaft. Seit wenigen Tagen sind die Zahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer abgeschlossen.

Eberhard Radczuweit, Gründer des Vereins "Kontakte", empfindet "Empörung" über diese Abweisung. Deshalb initiierte er 2004 ein "Bürger-Engagement": "Kontakte" sammelt Spenden für sowjetische Kriegsgefangene, die Zwangsarbeit leisten mussten, aber keinen Anspruch auf Geld aus dem Fonds haben. Prominente Unterstützer fand der Verein etwa in Wolfgang Thierse (SPD), Hans-Jochen Vogel (SPD), Richard von Weizsäcker (CDU) oder Hans-Otto Bräutigam. Die Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft unterstützte den Verein bei der Suche nach Kontakten.

"Sie litten unter dem verbrecherischen Nazi-Regime und haben aus Deutschland nie ein Wort der Entschuldigung vernommen", schreibt der Verein "Kontakte" an die ehemaligen Kriegsgefangenen. "Wir sind beschämt und haben gegen den Beschluss unserer Regierung, den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen die materielle Anerkennung zu verweigern, protestiert."

Gesten der Wiedergutmachung

Inzwischen haben mehr als 4000 Menschen in der Ukraine, Russland, Belarus und Armenien Geld von "Kontakte" bekommen. Immer mit einem Brief, der die Geste erklärt, um Entschuldigung bittet und nach der individuellen Lebensgeschichte fragt. Die finanzielle Unterstützung sei wichtig, erklärt Dmitri Stratievski, der den Hauptteil des Schriftverkehrs und der Übersetzung erledigt, "aber die Korrespondenz hilft auch sehr".

"Mein Herz weint, wenn ich an die Schrecken denke, die ich und andere erlitten haben. Ich danke Ihnen allen für Ihr Verständnis und Ihre Achtung." So reagiert Alexej Stepanowitsch Babanskij auf den Brief und das Geld von "Kontakte".

300 Euro pro Person, kann der Verein in der Regel überweisen. "Nur wenig Geld können wir Ihnen aus Deutschland schicken. Es ist ein Ausdruck unserer Scham über begangenes Unrecht und ein Zeichen des Respekts vor Ihnen", heißt es in dem Begleitschreiben der Initiative. "Ich danke ... für die materielle Hilfe. Doch wertvoll sind nicht die 300 Euro. Wertvoll ist Ihr Respekt und Ihr Verständnis für uns, die ehemaligen Kriegsgefangenen", schreibt Wladimir Nikolajewitsch Iwanow.



"Ich werde es nie vergessen"


Zwei Drittel der Menschen antworten auf das Erstschreiben von "Kontakte", so Dmitri Stratievski. Viele schreiben seither regelmäßig - und "Kontakte" reagiert. Mehr als 1000 Briefe mit aufrüttelnden und zugleich rührenden Lebensberichten hat der Verein von ehemaligen Kriegsgefangenen erhalten. 60 wurden für das Buch "Ich werde es nie vergessen" ausgewählt.

Die ehemaligen Gefangenen erzählen vom Grauen, das sie erlebten. Vom unmenschlichen Verhalten der Deutschen, aber auch von einigen wenigen, die Hilfe leisteten. Oft fällt es schwer darüber zu sprechen: "Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Doch als ich den Brief von "Kontakte" erhielt, habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen, und bin mit Tränen in den Augen in Erinnerung an meine Jugend versunken", heißt es in einem Brief. "Ich werde nicht mehr schreiben, weil es mir weh tut. Vielen Dank für Ihre Hilfe", steht in einem anderen Brief. Und trotzdem "Meine Seele ist frei von Hass dem deutschen Volke, den Menschen gegenüber", gesteht Andrej Iwanowitsch Kirijenko - wie viele andere.

Die Initiative habe viel erreicht, doch es gebe auch noch viel zu tun. Das betont Eberhard Radczuweit, der für seine Arbeit 2005 die "Carl-von-Ossietzky-Medaille" der Internationalen Liga für Menschenrechte erhielt. Momentan werden Spendenübermittlungen nach Estland und Aserbeidschan vorbereitet.

"Unser Bürger-Engagement endet mit dem Leben der letzten ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen. Danach bleibt die Erinnerungsarbeit." Weil "Kontakte" noch vielen Menschen helfen will, ruft der Verein weiterhin auf: "Geben Sie einen Tagessatz Ihres Einkommens für ehemalige Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer in Osteuropa".

Birgit Güll

www.kontakte-kontakty.de



"KONTAKTE-KOHTAKTbI" e.V. (Hrsg.): "Ich werde es nie vergessen. Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004-2006", Ch. Links Verlag, Berlin, 270 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86153-439-6

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