Kultur

Vergessen, wer man ist?

von Dagmar Günther · 6. August 2007

"Er (Peter) sagte, aber nach dem Krieg würde niemand wissen, ob er Christ oder Jude sei", hielt Anne Frank in ihrem Tagebuch am 16. Februar 1944 fest. Peter van Pels war entschlossen seine Biografie neu zu erfinden.

Und er versucht es. Als einziger Holocaust-Überlebender seiner Familie wandert er nach Amerika aus. Hier will er sein neues Leben aufbauen, frei von der jüdischen Herkunft.

Nach außen glückt der Schwindel. Er wird amerikanischer Staatsbürger ohne Religion. Er verliebt sich in eine junge behütete Frau, eine Jüdin, wie es Zufall will. Selbst ihr verrät er nicht, dass er Jude ist. Er heiratet sie. Sie schenkt ihm drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen. Die Familie ist glücklich.

Im Geschäftlichen - wie sollte es anders sein - beweist er ein gutes Händchen. Erfolgreich verkauft er mit sein Partner Harry Wolfe Eigenheime. Alles läuft bestens.

Bis eines Tages auf dem Nachttisch seiner Frau das "Tagebuch der Anne Frank" liegt. Kann er seiner Vergangenheit entrinnen? Er wirft das Buch weg. Er holt es zurück. Liest es unter Tränen. Auch dem Theaterstück und dem Film über Anne Franks Tagebuch mit allen von der Regie dazugedichteten Lügen und Halbwahrheiten wird er sich stellen müssen. Hat er die Kraft zu widersprechen? Er sucht einen Psychiater auf. Er besucht eine Synagoge. Er legt Geld zurück: Man könne ja nie wissen, ob man eines Tages ausreisen muss.

Die Autorin Ellen Feldmann lässt Peter durch die Hölle gehen. Sie kehrt sein Innerstes nach außen. Kann er sich ewig selbst belügen oder wird er sich zu sich bekennen? Und welche Rolle spielt Anne? Auch wenn seine Liebe zu ihr nicht direkt thematisiert wird, ist sie mit Zitaten aus ihrem Tagebuch stets gegenwärtig. Ein geschickter Schachzug der Autorin.

Als sie herausgefunden hatte, dass die meisten Historiker glauben, dass Peter van Pels "entweder auf einem Todesmarsch nach Mauthausen oder in Mauthausen, am 5. Mai 1945, drei Tage vor der Befreiung des Lagers, gestorben war", hatte er "schon etliche Jahre in" ihrem "Kopf gelebt". So schreibt Ellen Feldmann in ihrer Danksagung am Ende des Romans. Gut dass sie ihre Idee dennoch weiterverfolgte und Peter van Pels in ihrer fiktiven Geschichte erleben lässt, was Tausende nach dem Krieg durchlitten.

Dagmar Günther

Ellen Feldmann: Der Junge, der Anne Frank liebte, dtv, München 2007, 320 Seiten, 9,95 Euro, ISBN 978-3-423-2098-1

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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