Für den Autor Moritz Rinke ist es quasi ein Heimspiel. Schließlich kam er 1967 in Worpswede zur Welt - in jenem traditionsumwitterten Dorf im hohen Norden, "das berühmt ist für seinen Himmel, das flache Land und das sagenumwobene Moor". Genau dahin schickt er seinen Protagonisten Paul Wendland, ebenfalls geboren in Worpswede, genau genommen in der Künstlerfamilie Kück. Und dieser seiner Familie ist Paul auf der Spur, als er gemeinsam mit dem etwas zurückgebliebenen Nullkück - wie Großvater Paul Kück diesen Abkömmling seiner Familie nannte - versucht, das im Teufelsmoor zu versinken drohende Familienerbe zu retten. Neben dem geschichtsträchtigen Haus des Großvaters sind das dessen lebensgroße Bronzestatuen bekannter Persönlichkeiten von Luther über Bismarck bis zu Max Schmeling und Ringo Starr.
Geheimnisvolle Geschichten
Mit jeder hat es seine ganz eigene Bewandtnis. War Willy Brandt wirklich hier, bestellte seine Statue und musste dann "wegen der Spionagegeschichte" so schnell weiterreisen, dass er sein Stück Butterkuchen, das noch immer angebissen im Tiefkühlschrank liegen soll, nicht aufessen konnte? Wurde die schöne Kommunistin Marie von der Gestapo abgeholt oder hat die eigenen Familie sie im Teufelsmoor versenkt? Kann ein toter Onkel ein Kind zeugen?
Die Reise zurück an den Ort der Kindheit bleibt nicht ohne Folgen. Immer tiefer dringt Paul Wendland in die Geschichte von Familiengeheimnissen, Künstlerrivalitäten und auch Nazi-Verwicklungen ein. Aus der Tiefe des Moores kommt ein undurchdringliches Geflecht von offensichtlichen Lügen, seelischen Abgründen und bitteren Geheimnissen aus einem ganzen Jahrhundert an die Oberfläche. Es geht um Liebe und Verlassenwerden, Ruhm und Niedergang, Verführung und Vergänglichkeit.
Tiefsitzende Vergangenheit
All das beschreibt der Autor Moritz Rinke in seinem Romandebüt mit schwindelerregender Leichtigkeit. Ungemein locker kommen schwerwiegende Dialoge daher. Unnachahmliche Tragikkomik und irrwitzige Realität mischen die Lebensmotive, die Geschlechter-, Generations- und Identitätskonflikte seiner Figuren.
Am Ende möchte der Leser am liebsten wieder von vorn anfangen. "Wie tief sitzt die Vergangenheit in diesem Dorf (Land), dass die Gegenwart nie beginnen kann?", fragt sich der Held.
Vielleicht liegt es in der Künstlerkolonie Worpswede auch an der Mischung ihrer Bewohner, die er folgendermaßen beschreibt: "50 % Künstler, Irre und Hanseaten, 50 % Bauern mit Kühen und Menschen
mit inneren Kühen." Innere Kühe seien "schwere Seelen, die niemals das Moor verlassen können". Wird er eine Antwort auf seine Frage, wie die Seelen der Menschen aufbewahrt werden, finden?
Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel", Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln, 2010, 496 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-462-04190-3