„Venezianische Freundschaft“: Gemeinsam statt einsam
SIMONE FALSO
Andrea Segres Film „Venezianische Freundschaft“ führt vor, wie man von existenziellen Lebensfragen erzählt, ohne dabei ins Didaktische oder Klischeehafte abzugleiten. Dabei ist das Klischee- und Kitschpotenzial dieses Films immens. Das zeigt schon ein Blick auf die Konstellation der Charaktere. Raue Schale, weicher Kern: Alter Fischer und junge Zuwanderin finden zueinander.
Doch Segre tappt eben nicht in die üblichen Fallen, die Geschichten rund um Migration und Ausgrenzung mit sich bringen. Mit dokumentarischer Präzision und viel Raum für seine Darsteller schafft er eine Sphäre, in der sich Gefühle jeglicher Art Bahn brechen, ohne vom gelassenen, fast schon unspektakulären Erzählstil abzuweichen.
Schuften für den Sohn
Der Film beginnt in einer Welt, die den meisten verborgen bleibt: in einer chinesischen Näherei in einem Vorort von Rom. Also an einem jener Orte, die große Teile des Bekleidungsmarktes, nicht nur in Italien, übernommen haben. Eine der Näherinnen ist Shun Li. Um den Job in Europa zu bekommen, hat sie sich bei ihren Mafia-Arbeitgebern hoch verschuldet. Und ihren Sohn zurückgelassen.
Nun schuftet sie mehr als die anderen, um ihn möglichst rasch zu sich zu holen. Als Anerkennung schicken die chinesischen Menschenhändler sie in die Nähe von Venedig. In einem verschlafenen Fischerstädtchen soll sie eine Osteria führen. Shun Li ist dort nicht mehr nur unter ihresgleichen. Ein Umstand, der einige Probleme, aber auch Hoffnung mit sich bringt, wie sich rasch zeigen wird.
Eine Freundschaft jenseits aller Grenzen
In Chioggia, am südlichen Ende der Lagune, muss die junge Frau nun einen Laden zusammenhalten, den die nicht mehr so ganz jungen italienischen Fischer und allerlei andere Männer seit Jahren als ihr zweites Zuhause betrachten. Die zierliche Chinesin mit ihrem lustigen Italienisch nehmen sie eher als skurrilen Zierrat oder schlichtweg als Fremdkörper wahr. Nur einer von ihnen begegnet ihr mit Respekt. Es ist Bepi, ebenfalls Fischer. Denn er hat den anderen Dauergästen eines voraus: Er hat den Blick von außen nicht verlernt.
30 Jahre zuvor war er von Kroatien auf die andere Seite der Adria gezogen. Er kennt das Gefühl, nicht dazuzugehören. Mit jedem Kaffee entwickelt sich zwischen dem, den alle den „Poeten“ nennen, und der Wirtin ein Gesprächsfaden – über Poesie. Eine Freundschaft jenseits kultureller und sprachlicher Grenzen entsteht.
Das verquere Weltbild der Masse
Doch um die beiden herum entwickeln sich die Dinge ganz anders. Bepis und Shun Lis zarte Bande macht die Alteingesessenen misstrauisch: Sie sehen Chinesen als gelbe Gefahr, die nach und nach ganz Italien überrollt. Sie stehen für jene Schichten, die den Wandel des Veneto von der Auswanderungs- zur Einwanderungsregion nicht begriffen haben und ein verqueres Weltbild pflegen.
Sie sind viele: Seit Jahren feiern Rechtspopulisten im Nordosten Italiens Riesenerfolge. Aber auch den Männern, die Shun Li beschäftigen, ist der Kontakt mit Bepi ein Dorn im Auge: Sie hat, wie alle anderen Sklavenarbeiterinnen auch, den Kontakt zu Nicht-Chinesen gefälligst zu unterlassen. Wird die Mutter das Wiedersehen mit ihrem Sohn aufs Spiel setzen, um ihre unverhoffte Freundschaft zu retten?
Laiendarsteller und natürliches Licht
All diese Geschichten sind Tei eines gemächlichen, aber keineswegs spannungslosen Erzählflusses, dessen besondere Atmosphäre auch von Eindrücken des Schauplatzes lebt. Der erfahrene Dokumentarfilmer Segre inszeniert viele Szenen wie Gemälde, und das meist im natürlichen Licht: Seien es die Fischer auf ihrem Kutter oder abends rund um den Kneipentisch, sei es die menschenleere Lagune im Morgennebel. Laienschauspieler tun ihr Übriges, um für ein authentisches Ambiente in der Lagunenstadt im Schatten Venedigs zu sorgen.
Die beiden Hauptdarsteller Zhao Tao und Rade Serbedzija faszinieren mit einem zurückgenommenen Spiel, das manchmal im Widerspruch zur konkreten Situation zu stehen scheint, aber gerade dadurch eine ganz eigene Wirkung erzeugt. Erst recht wird der Zuschauer inspiriert, sich mit diesen so gegensätzlichen Lebenswelten eingehender zu beschäftigen. Und auch mit den Gemeinsamkeiten. Die Mauer zwischen den Welten zu überwinden, ist allerdings schwieriger als gedacht.
Letztendlich rückt der Film mit dem Veneto einen Teil Italiens in den Mittelpunkt, der es ansonsten leider nur selten vor die Kamera schafft. Wohl auch deswegen enthält die DVD als Bonus unter anderem „Chioggia in 8 mm“, einen Stummfilm aus den 1960er-Jahren.
„Venezianische Freundschaft“( „Io sono Li“, Italien 2011), ein Film von Andrea Segre, mit Zhao Tao, Rade Serbedzija, Giuseppe Battiston u.a., OmU, 98 Minuten
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