An jedem 8. Januar startet Isabel Allende mit einem neuen Buchprojekt: seit 25 Jahren schon. "Mehr aus Aberglauben als aus Disziplin", sagt sie. Es ist offensichtlich ein gutes Omen. Hatte sie
doch auch "Das Geisterhaus", "Zorro", Mein erfundenes Land", "Inéz meines Herzens", Fortunas Tochter, "Im Reich des Goldenen Drachen", "Der unendliche Plan" und viele andere Bücher an einem 8.
Januar zu schreiben begonnen.
Doch diesmal ist es ein besonders heikles Projekt. "Schreib über Deine Familie", lautet der Ratschlag ihrer Agentin Carmen Balcells. Aber das hatte sie doch vor dreizehn Jahren schon
getan: "Paula" hieß der Roman, mit dem sie den viel zu frühen Tod ihrer Tochter Paula verarbeiten lernte, und der die Herzen der Leser zutiefst rührte. Würde es erneut gelingen?
"Das Erlebte nachvollziehen"
Jedenfalls erweist es sich als schwieriger, als gedacht. Ihr Clan, eine bunt zusammen gewürfelte, überaus farbige Großfamilie, zu der neben den Verwandten auch enge Freunde gehören, ist
widerspenstig. Immer sind etwa in der Mitte jedes Buches, die Figuren quasi lebendig geworden: "Sie tauchen aus dem Zwielicht auf und stehen leibhaftig vor mir. Ich kann ihre Stimme hören und
ihren Geruch atmen...", so die Autorin. Über die eigene Familie zu schreiben, ist etwas ganz anderes, "weil die Figuren Menschen aus meiner Familie sind, die leben, die ihre Vorstellungen und
ihre Konflikte haben. Hier geht es nicht darum, die Phantasie anzustacheln, sondern um den Versuch, das Erlebte wirklich nachzuvollziehen."
In langen Gesprächen hätten sie die Angst davor überwunden, ihre Gefühle, die guten wie die schlechten auszudrücken...", beschreibt sie das Ringen um die Wahrheit. Und als Willies jüngster
Sohn in dem Roman nicht vorkommen will, schreibt sie ihn um. Es sei ihr "wie Schummeln vorgekommen", so Isabel Allende. Doch habe sie sich nicht "eines fremden Lebens bemächtigen" wollen.
"Was bleibt ist Klarheit"
Aber wessen Wahrheit ist richtig? Ehemann Willie sagt: "Man gelangt an einen Punkt, an dem man die Wahrheit vergessen und sich auf die Tatsachen konzentrieren muss. Sie als Erzählerin
meint: "Man muss die Tatsachen vergessen und sich auf die Wahrheit konzentrieren... Und nachher werden sich die Wogen glätten, der aufgewühlte Schlick wird zurück auf den Grund sinken, und was
bleibt, ist Klarheit."
Das resümiert Isabell Allende, als sie sich durch alle Verästelungen des Lebens noch einmal hindurchgekämpft hat, manches klarer, anderes verklärter sieht. "Himmel, ich habe es
hingeschrieben, ohne nachzudenken. So empfand ich sie alle, als die Meinen: Willie, meine Kinder, meine Schwiegertochter, meine Enkel, meine Eltern, selbst die Stiefkinder, mit denen ich mich von
Scharmützel zu Scharmützel hangelte, gehörten mir. Es hat mich soviel Mühe gekostet, sie zusammenzubringen, und ich war entschlossen, diese kleine Gemeinschaft gegen alle Schicksalsschläge und
jede Pechsträhne zu verteidigen", so die Autorin.
Kann eine einzige Frau einen ganzen Clan retten? Isabel Allende kann. Und es macht rein gar nichts, wenn sie sich in ihre Rolle als "Übermutter" mitunter überfordert sieht und das ganz
selbstironisch kommentiert. Mit heißem Herzen schmiedet sie die Ihren zusammen. Nicht jeder Traum geht in Erfüllung. Es gibt Irrungen und Wirrungen, Trennungen und Versöhnungen, heimliche und
offene Ehestiftungen - alles, was eine große Familie zu bieten hat. Und manches mehr: Eine lesbische Schwiegertochter schenkt ihr drei Enkelkinder. Zwei lesbische buddhistische Nonnen geben dem
krankes Baby ihrer drogensüchtigen Stieftochter ein Zuhause. Mittendrin lebt Isabel Allende, die Bücher schreibt und gemeinsam mit ihrem Willie die kleinen und großen Katastrophen meistert.
"Man kann nur haben, was man gibt"
Und über alle wacht Paula, stellt sie sich vor. Ihrer verstorbenen Tochter erzählt die Mutter in ihrer Fantasie von den Höhen und Tiefen, wie es weiterging - das Leben der Familie nach
Paulas Tod. Bei ihr sucht und findet sie Rat. Wie hätte die Tochter entschieden? Was hätte sie gedacht? Und so ist dieses Buch eine Liebeserklärung an Paula und den Clan. Mit Herzblut
geschrieben, prall gefüllt mit den Weisheiten, die das Leben hervorbringt. Zum Beispiel: "Man kann nur haben, was man gibt." Oder: " Es ist schwer Gefühle gehen zu lassen, aber letztlich ist für
sie jeder selbst verantwortlich."
Wieder ist Isabel Allende ein außergewöhnliches Werk gelungen, das an einem 8. Januar seinen Anfang nahm. Ein fesselnder Roman großer Gefühle. Gekonnt ordnet sie diese in die politischen
Verhältnisse der Zeit ein, ob der Tatort nun das Geburtsland Chile, die Wahlheimat Kalifornien oder eines ihrer Reiseländer wie Indien ist. Am Ende steht einem diese ungewöhnliche, humorvolle,
lebensbejahende Frau so nahe, als gehöre man selbst zum Clan. Eine ganz wundervolle Lektüre für alle, die Familie haben oder wollen. Denn jeder wird sich an irgendeiner Stelle selbst erkennen und
Lebenshilfe finden.
Isabel Allende: Das Siegel der Tage. Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008, 415 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-518-42010-2
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