Kultur

Über die Rattenlinie nach Südamerika

von Jonas Jordan · 7. Februar 2012

Horst Wagner arbeitete von 1936 bis 1945 im Auswärtigen Amt. Er war Verbindungsmann zwischen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Wagner war beteiligt an der Ermordung von 350000 Juden. Nach dem Krieg tauchte er unter und wurde bis zu seinem Tod nie verurteilt.

In ihrem Buch „Geliebte Täter – Ein Diplomat im Dienst der ‘Endlösung’“ zeichnet Gisela Heidenreich Wagners Fluchtgeschichte nach. Das Buch ist zugleich die Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte. Denn Heidenreichs Mutter, die den ehemaligen SS-Standartenführer Wagner im Nürnberger Gefängnis kennen und lieben lernte, leistete ihm während seiner gesamten Abwesenheit treue Dienste. Auch als er sie nach seiner Rückkehr abservierte, blieb sie ihm bis in den Tod in Liebe verbunden.

Auf den Wegen von Josef Mengele und Adolf Eichmann

Wagner flieht1948, als ihm eine Verurteilung droht, über die so genannte „Ratten- oder Klosterlinie“ zunächst nach Italien und 1951 schließlich weiter in Richtung Südamerika. Wagners Fluchtgeschichte steht somit beispielhaft für eine der beliebtesten „Rattenlinien“, die auch andere bekannte NS-Größen zur Flucht nutzten: zum Beispiel der später in Argentinien enttarnte und vom Mossad nach Israel entführte Adolf Eichmann, der frühere KZ-Arzt Josef Mengele oder Erich Priebke, der erst 1993 ebenfalls in Argentinien enttarnt wurde und noch heute im hohen Alter von 98 Jahren in Italien unter Hausarrest lebt.

Die Linie führte über österreichische Klöster und einem Zwischenaufenthalt in Südtirol, wo sich die Nazis von den Strapazen ihrer Reise erholten, nach Genua. Dort bekamen sie in der Regel, teilweise unter freundlicher Mithilfe des Vatikans und insbesondere von Bischof Alois Hudal, vom Internationalen Roten Kreuz einen Flüchtlingspass zur Ausreise nach Südamerika ausgestellt. In Argentinien gründeten die Nazis anschließend regelrechte Kolonien inklusive dem wöchentlichen Stammtisch ehemaliger SS-Mitglieder.

Der rote Faden des 330-seitigen Buches sind Wagners Briefe an Gisela Heidenreichs Mutter in der Zeit zwischen 1948 und 1955. Besonders interessant werden ihre Schilderungen allerdings dadurch, dass Heidenreich persönlich nach Italien und Argentinien reist, um Wagners Weg nachzuvollziehen. Insbesondere im argentinischen Bariloche, rund 1600 Kilometer von Buenos Aires entfernt, trifft sie auf eine Art Parallel-Welt, aufgebaut nach dem Zweiten Weltkrieg von Alt-Nazis wie Erich Priebke.

Schluss mit der „Naziriecherei“

Immer wieder stellt man während Heidenreichs genauer Beschreibungen mit Entsetzen fest, wie wenig Interesse in der allgemeinen Nachkriegsöffentlichkeit anscheinend an der Verurteilung von ehemaligen NS-Verbrechern bestand. Nicht nur südamerikanische Diktatoren wie Juan Perón in Argentinien oder der deutschstämmige Alfredo Stroessner in Paraguay zeigten sich überaus gastfreundlich gegenüber Alt-Nazis.

Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sah bei der Einstellung seiner Mitarbeiter großzügig über deren NS-Vergangenheit hinweg. Seiner Aussage, es müsse endlich Schluss sein mit der „Naziriecherei“, verdankte insbesondere Hans Globke, während der NS-Zeit mitverantwortlich an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassengesetze, seine neue Anstellung. Globke wurde Chef des Bundeskanzleramts und galt als „graue Eminenz“ des Kanzlers.   

Straffrei bis in den Tod

Davon erhält Wagner im Ausland Kenntnis und sieht auch für sich selbst die Chance, sich wieder in seinem alten Beruf als Diplomat etablieren zu können. Aus diesem Grund entschließt sich Wagner nach gut zehnjähriger Flucht zur Rückkehr nach Deutschland. Sein Plan geht jedoch nicht ganz auf. Zwar kann sich Wagner unter anderem durch Bescheinigung von Verhandlungsunfähigkeit einer strafrechtlichen Verurteilung bis zu seinem Tod 1977 entziehen, eine Wiedereinstellung im Auswärtigen Amt gelingt ihm jedoch nicht.

  Kurz vor dem Ende ihrer Recherchen holt Gisela Heidenreich die Vergangenheit noch einmal ein. Sie erfährt, dass Wagners zweite Frau noch immer lebt. Als sie die inzwischen 84-Jährige besucht, kommt sie ins Grübeln, ob sie das Buch tatsächlich schreiben und die alte Frau mit dem Wissen über ihren verstorbenen Mann belasten soll. Dann besinnt sie sich doch eines Besseren. Schließlich schreibe sie nicht für die Angehörigen der Täter, sondern für die Angehörigen der Opfer und wolle durch ihr Schweigen keine zweite Schuld auf sich laden.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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