Kultur

Trotzig in den Abgrund geblickt

von ohne Autor · 8. November 2013

Was für ein seltsames Land, dieses Bosnien-Herzegowina. Nur dann, wenn sie wieder irgendwo ein Massengrab ausheben oder der Toten von Srebrenica gedenken, schafft es der Vielvölkerstaat in die Hauptnachrichten seiner europäischen Nachbarn.

So wie neulich, als das bislang wohl größte Massengrab in der Geschichte des Landes entdeckt wurde: Experten fanden 430 Leichen von Muslimen und Kroaten, die von bosnisch-serbischen Milizen im Bürgerkrieg umgebracht worden waren. Wenig später verpufft die Aufmerksamkeit wieder, obwohl seit Kriegsende immer wieder ethnische Spannungen aufflammen. Ganz zu schweigen von der wirtschaftlichen und sozialen Dauermisere. Seltsames Europa?

Trailer

Dass diese permanente Krise nach dem Big Bang in den Neunzigern nicht nur mehr Beachtung verdient, sondern obendrein ein unerschöpfliches und unverzichtbares Reservoir zur künstlerischen Deutung von Grenzerfahrungen bietet, beweist Aida Begics neuer Film „Djeca – Kinder von Sarajevo“. Welches Bild wir und die Bosniaken selbst von der 4,6-Millionen-Republik haben und welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven einander aussetzen, macht ein wesentliches Spannungsmoment dieses Sozialdramas aus. Anders gesagt: Das Nebeneinander von Außen- und Innenblick ist stets präsent, wenn die Kamera dem Alltag von zwei Kriegswaisen zwischen den Plattenbauten einer öden Siedlung am Rand der Hauptstadt folgt.

Vielfalt von gestern

In einem dieser grauen Klötze leben die 23-jährige Rahima und ihr zehn Jahre jüngerer Bruder Nedim. Ihre Eltern sind während der Kämpfe um das einst wegen seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt legendäre Sarajevo ums Leben gekommen. Im Nachkriegsbosnien verschob sich das Gewicht zugunsten der Muslime. Doch auf der Siegerseite sehen sich Rahima und Nedim noch lange nicht.

Wieder einmal legt Bosniens Kino die Urgründe einer noch immer zutiefst verunsicherten Gesellschaft frei, wo das Gefälle zwischen Oben und Unten kaum zu steigernde  Ausmaße annimmt. Anders als in dem bei der letzten Berlinale ausgezeichneten Film „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“, der die authentische Geschichte einer Roma-Familie erzählt, die rassistisch ausgegrenzt wird und daran fast zugrunde geht, blickt die 1976 in Sarajevo geborene Begic in die vermeintliche Mitte der Gesellschaft. Insofern es sie angesichts einer Arbeitslosigkeit von zuletzt 43 Prozent überhaupt gibt.

Rahima ist zumindest froh, mit mütterlicher Strenge für sich und ihren Bruder sorgen zu können. Dafür nimmt sie es in Kauf, in der Küche eines ebenso despotischen wie korrupten Restaurantbesitzers zu schuften. Sie hat die Schrecken des Krieges gesehen und wird sie nicht los. Ein ratternder Zug oder knatterndes Feuerwerk genügen, um Rahima zusammenfahren zu lassen. Mit einem äußerst kühnen Schnitt leitet ein heulender Staubsauger in den Sirenenlärm des belagerten Sarajevos über. Plötzlich hetzt das Auge mit der Protagonistin durch einen Splittergraben.

Echte Kriegskinder

Wie ein Mühlstein lasten die Erinnerungen auf der jungen Frau. Ihr schlimmster Albtraum ist allerdings, dass Nedim so werden könnte wie sie, als beide damals plötzlich ohne Eltern dastanden: entwurzelt, aggressiv und kriminell. Ein Polizist macht ihr während eines Hausbesuchs deutlich, dass diese Beschreibung noch immer gilt. „Du bist ein Rezidivist“, sagt er ihr ins Gesicht. Das sitzt. Dass Nedim, der häufig die Schule schwänzt, kleine Diebstähle begeht und sich in der Schule prügelt, ähnliche Neigungen offenbart, bereitet Rahima zunehmend Sorgen. Jedoch beißt sie sprichwörtlich immer wieder die Zähne zusammen, um den Alltag ihrer Mini-Familie zu meistern. „Wir sind nicht im Wald geboren, sondern im Krieg“, schleudert sie einer misstrauischen Jugendamtsmitarbeiterin entgegen.

Rahimas symbolträchtigste, wenn nicht gar wirksamste Waffe gegen das Üble in ihren Erinnerungen und vor ihrer Haustür ist ihr Kopftuch. Dessen religiöse Bedeutung ist für die Muslima nebensächlich. Stattdessen soll es sie wie eine Hülle vor all den Widerwärtigkeiten dort draußen schützen. Als sich Nedim jedoch mit dem Sohn eines hohen Beamten – ein regelmäßiger Gast in ihrem Restaurant – anlegt, hilft auch das nicht weiter. Wie zum Teufel soll sie für den Eliten-Sprössling ein neues Mobiltelefon auftreiben, das sie drei Monatsgehälter kosten würde? Der Ausweg aus der verfahrenen Situation gefährdet alles, was sich Rahima aufgebaut hat, doch sie muss ihn gehen.

Ausbeutung als Chefsache

Das lebenspralle Restaurant, wo Politiker und Kriminelle die Ausbeutung des Landes und seiner Menschen bei Steak und Rotwein als gemeinsame Chefsache regeln und das wie abgehängt im Dauernebel vor sich hin dämmernde Neubauviertel: Begic setzt auf deutliche Metaphern, um ihre Sicht auf ihr Land zu beschreiben. Ohne Vorschlaghammer, sondern mit einer stimmigen Mischung aus grotesken Situationen und Figuren und einem schier ungeschliffenen sozialen Realismus.

Sogar arthousetaugliche Traumbilder finden in dieser atmosphärischen dichten Erzählung Platz, die jeden Moment eine tödliche Wendung zu nehmen droht. Derartiges hat Begic  durchaus zu bieten, doch vor allem führt sie uns in denkbar begrenztem Rahmen eine Gesellschaft in der Warteschleife vor. Natürlich mit offenem Ende.

Info: Djeca – Kinder von Sarajevo (Bosnien-Herzegowina 2013), ein Film von Aida Begic, mit Marija Pikic, Ismir Gagula, Nikola Duricko, Stasa Dukic, 90 Minuten. Ab sofort im Kino

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