Kultur

Tod und Blut und Kanonenkrachen

von Jörg Hafkemeyer · 20. Februar 2009
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Es gibt wenige Bücher, die eine solche Faszination ausüben. Bücher, bei denen der Leser sich dem Sog der Ereignisse und Entscheidungen nicht entziehen kann. Die Rede ist von einem einzigartigen Werk der deutschen Literatur. Dem besten Buch zur Revolution: "November 1918" von Alfred Döblin. Dieser historische Roman ist auf über 2000 Seiten in vier Bänden eine Komposition aus Politik und Geschichte, ist Drama und Tragödie, schildert Erlebnisse und Personen, bietet Daten, Fakten und Fiktionen. "November 1918" ist eine gewaltige, ausdrucksstarke To­tale auf die gescheiterte Revolution 1918/1919. Der Roman beginnt am 10. November 1918 und endet ein paar Wochen später.


Als der erste Band 1939 heraus- kommt, ist Alfred Döblin schon berühmt mit "Berlin Alexanderplatz". Der Jude Döblin ist nach Frankreich emigriert. Dort beginnt er sein Meisterwerk. 1940 flüchtet er vor den Nationalsozialisten über Spanien in die USA. 1950 erscheint der vierte und letzte Band mit dem Untertitel "Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa". Das ist die Zeitspanne. Wenige dramatische Wochen vom Matrosenaufstand Ende 1918 in Kiel bis zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Jahresbeginn 1919. Eine Gedenktafel am Ufer des Landwehrkanals in Berlin erinnert heute an den Doppelmord.


In diesem Meisterwerk des engagierten Schreibens wechseln die Szenen rasch. Geradezu wie im Kino. Es gibt vom Autor erfundene Akteure wie den Dichter Stauffer, dem es nur um sein kleines privates Schicksal geht. Es gibt den kriegsversehrten Lehrer Becker, der sich der Religion zuwendet. Sein Kamerad aus dem Kriegslazarett, Johannes Maus, schließt sich den Freikorps an. Und es gibt Akteure, die wirklich lebten, Reichspräsident Friedrich Ebert, der ehrenwert Scheiternde, Philipp Scheidemann, erster Reichskanzler der Weimarer Republik, der geradezu ihre Tragödie verkörpert. Und Gustav Noske, zuständig für das Militär, der sich selbst als "Bluthund" bezeichnet.


Was macht nun Döblin? Sein Anspruch ist: Das Leben nach diesem entsetzlichen Krieg muss radikal anders gedacht und gefühlt werden. Er mischt die Welten in diesen Wochen unmittelbar nach dem ersten großen Krieg des 20. Jahrhunderts, und das mit viel Geschick. Die Welt der zerstörten Hoffnungen und der lebendigen Toten. Die Welt der hoffnungsvollen Zerstörungen und der toten Lebenden. Über sie breitet sich ein gestärktes, weißes Leichentuch.


Döblin schreibt in "November 1918 - Bürger und Soldaten" im Jahr 1939 unter anderem: "Mit welcher Wollust wühlten und schaufelten Soldaten oben in den Kleidern und Gerätekammern. Mit welchem Erlösungsgefühl schütteten sie die Sachen herab. Da flogen die Schaufeln, gedacht für die Schützengräben und ihnen selbst das Grab zu öffnen. Mit diesen Mänteln sollten die neuen Regimenter eingekleidet werden. In ihnen sollten sie zerschossen werden. Tod, Blut, Kanonenkrachen aus allen Stücken. Sie schleuderten sie weit weg, herunter auf die gierigen Zivilisten. Da war es gut aufgehoben. Von da würde es nie wieder kommen."


Alfred Döblin hat mit diesem Roman auch etwas geschaffen, was sonst niemandem gelang: ein großes deutsches Geschichtsbuch. Das ist selbst Sebastian Haffner mit seinem ausgezeichneten Buch über diese deutsche Revolution nicht geglückt. Auch Döblin geht sehr kritisch mit den Sozialdemokraten jener Zeit um. Dennoch waren es die Deutschen selbst, die alle Chancen und Hoffnungen für einen Neuanfang versiebten.
 

Alfred Döblin: »November 1918«, S. Fischer 2008, Vier Bände, ca. 2000 Seiten.
Einzelpreis zwischen 17,90 und 19,90 Euro, ISBN 978-3-10-015554-2

Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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