Tempodrom-Gründerin Irene Moessinger: „Berlin und das Mittelmeer sind Heimat“
Jim Rakete
Irene Moessinger ist eine Berliner Institution, genau wie das von ihr gegründete Tempodrom: Der Veranstaltungsort zog seit seiner Gründung 1980 Künstler aus der ganzen Welt an, war die Speerspitze einer kulturellen Bewegung. Nun hat Moessinger ihre Memoiren geschrieben, in denen sie nicht nur die Geschichte des Tempodroms erzählt – sondern auch ihr eigenes, bewegtes Leben. In „Berlin liegt am Meer“ berichtet die 68-Jährige poetisch und persönlich von ihrer Kindheit in Spanien, dem Umzug nach Berlin und privaten und beruflichen Herausforderungen. Moessinger traf alte Weggefährten, reiste noch einmal an für sie wichtige Orte. Herausgekommen ist dabei ein unterhaltsames, ehrliches Buch, in dem das Damals und das Heute geschickt miteinander verwoben werden. Mit dem „vorwärts“ sprach Irene Moessinger darüber, was für sie Heimat bedeutet und was sie besonders gut kann.
Frau Moessinger, Sie sind in Deutschland geboren, haben dann mit Ihrer Mutter und Ihrer Schwester lange in Spanien gelebt und den Rest Ihrer Jugend in einem Internat in Baden-Württemberg und dann in einem Ort am Bodensee verbracht. Es folgt ein kurzer Zwischenstopp in München, bevor Sie Anfang der 1970er als junge Frau nach Berlin gezogen. Dort gründeten Sie später das legendäre Tempodrom. Wo sind Sie heimisch?
Berlin, von Anfang an. Ich bin viel umgezogen, bis ich nach Berlin kam – dreizehnmal, habe ich ausgerechnet! Natürlich, heute arbeite und lebe ich teilweise auf dem Land, aber ich bin immer auch in Berlin.
Was gefällt Ihnen an Berlin so gut?
Das hat sich immer wieder geändert: Was mich in den 1970ern fasziniert hat, ist nicht unbedingt das, was mich heute fasziniert. Aber da ist diese eine Sache, die ich toll finde, auch noch im hohen Alter.
Welche?
Ich fahre immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln und steige meistens um, am Kottbusser Tor. Seit drei Tagen gibt’s da jeden Abend ein Konzert, unten, wo die U-Bahnen abfahren. Fantastisch! Ich lasse jedes Mal drei, vier, manchmal fünf Bahnen fahren – und das geht allen so! Wie die Musiker die Leute animieren! Ich denke immer, gleich gibt‘s ne Resonanzkatastrophe. Weil es so laut ist! Irgendwann wird das Konzert durch die Polizei unterbrochen, und dann müssen sie aufhören. Aber jeden Abend sind sie wieder da. Das ist Berlin! Das sind so Sachen, die mich überraschen.
Berlin überrascht Sie?
Genau. Obwohl es jetzt ziemlich in Investorenhand ist. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie das war, damals, Anfang der 70er, als ich hierherkam – Sie sind noch so jung. Da hatte jedes zweite Haus noch Einschusslöcher vom Krieg oder war beschädigt. Aber es gab immer eine Szene, die sich gewandelt hat. Und über die ganzen Wandlungen hinweg bin ich Fan geblieben. Also, was heißt Fan: Ich bin hier verwurzelt. Meine Mutter ist Berlinerin und ich bin schon immer Kreuzbergerin gewesen – ich bin damals sofort dahingezogen. Als die Mauer aufging, sind viele rüber nach Prenzlauer Berg. In Kreuzberg waren quasi die Übriggebliebenen. Damals gab es wenig Geld, viele Drogen und Fixer. Heute ist Berlin eine Weltstadt, es ist ein bisschen mehr wie andere Hauptstädte. Jetzt kommen die ganzen Europäer, man hört Englisch, Französisch, Spanisch… Ich finde das schön.
Hat Spanisch für Sie eigentlich noch eine Bedeutung? Sie schreiben in Ihrer Autobiografie „Berlin liegt am Meer“, dass Sie und ihre ältere Schwester im Internat untereinander Spanisch sprachen – was in der Schule nicht allen passte.
Deutsch ist immer meine Muttersprache geblieben: Mit meiner Mutter haben meine Schwester und ich Deutsch geredet. Aber sonst nur Spanisch. In der Schule ist es uns ganz schön schwer gefallen, uns umzustellen. Wir durften kein Spanisch reden, weil man Angst hatte, wir tauschen Geheimnisse aus oder so. Auch heute macht Spanisch noch etwas mit mir. Und genau wie in Berlin fühle ich mich im Mittelmeerraum zu Hause. Mit den Gerüchen, dem Meer… Allerdings ist das, was gerade im Mittelmeer passiert, natürlich eine Tragödie. Grausam.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Das Meer ist Heimat. Berlin ist Heimat. Berlin liegt am Meer.“
Das Meer ist immer Inspiration gewesen, auch beim Schreiben. Ich musste zum Schreiben ans Meer, habe eigentlich nur auf Reisen geschrieben. Und Berlin war eben auch immer Inspiration!
1980 haben Sie mit anderen zusammen das Tempodrom als alternative Spielstätte gegründet, auf der Westseite des Potsdamer Platzes, fast direkt an der Mauer – später zog das Tempodrom mehrfach um. Finanzielle Grundlage für das Unterfangen war eine Erbschaft, die Sie gemacht hatten.
Das Tempodrom ist aus einer Bewegung heraus entstanden – das war ja nicht ich alleine. Klar, in den Medien war immer die Rede von der Krankenschwester, die Millionen geerbt hat… Es waren nie Millionen! Aber natürlich hat das zum Bekanntheitsgrad beigetragen. Trotzdem: Das Tempodrom war immer ein Produkt vieler. Und ich glaube, unsere Leistung war, dass wir so viele Menschen zusammengebracht haben.
Fassen Sie sich heute manchmal an den Kopf und denken: Wie haben wir das damals eigentlich gemacht? Und warum hat das so lange funktioniert?
Ich glaube, das sind ganz grundsätzliche Fragen: Warum funktioniert eine Sache, warum sind Sachen nachhaltig und warum nicht? Als wir damals angefangen haben, war das anders als heute. Wir hatten Ideen – vielleicht auch Visionen – und wir haben die umgesetzt, sofort. Da gab’s keinen Business-Plan, keine Corporate Identity. Da hat man gemacht. Das war auch die Gnade der Anfänger, der Naiven, der Mutigen. Heute hingegen ist der gesellschaftliche Druck, der auf jungen Leuten lastet, wesentlich größer. Die lassen sich aber auch zu viel gefallen! Es ging bei uns auch nicht so um Geld: Meine Erbschaft war nach einem Jahr weg. Es ging uns eher um die Leidenschaft. Heute wird alles konzeptualisiert, dadurch verhindert man den Prozess.
Was hat das Tempodrom von anderen Kultureinrichtungen unterschieden?
Es gab schon vergleichbare Institutionen wie das Tempodrom, mit denen wir auch zusammengearbeitet haben. Die ufaFabrik, zum Beispiel. Bevor wir angefangen haben, gab es in Berlin quasi nur Hochkultur. Dann kam der kulturelle Aufbruch: die Schaubühne, die Off-Kinos, die freien Theater. Und dann kam das Tempodrom. Vieles von dem, was wir gemacht haben, ist heute in Theaterproduktionen gang und gäbe. Wir waren außerdem die Ersten, die Kinderzirkus zum Mitmachen angeboten haben! Heute macht das ja jeder, aber damals gab es das noch nicht.
2001 wurde das Neue Tempodrom auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs eröffnet. Finanziert wurde der Bau durch öffentliche Zuschüsse, private Spendenmittel sowie eine Entschädigungszahlung. Die geplanten Baukosten wurden dabei überschritten, der zuständige Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) trat zurück. Obwohl das Tempodrom schwarze Zahlen schrieb, kam es 2004 zur Insolvenz des Besitzers – Sie hatten eine Bürgschaft hinterlegt, die dann fällig wurde. Im Juli 2005 wurden Sie gezwungen, die Leitung des Tempodroms abzugegeben. Später mussten Sie sich mit Ihrem Co-Geschäftsführer Norbert Waehl wegen Untreue vor Gericht verantworten. Sie wurden freigesprochen, wegen erwiesener Unschuld. Ein Freispruch erster Klasse. Eine Geschichte mit Happy End ist das für Sie aber trotzdem nicht, oder?
Es war schon hart. Wir haben ja alles gegeben für das Neue Tempodrom, obwohl das schon nicht mehr „unser“ Ding war: Die Stadt wollte, dass das Tempodrom weitergeführt wird. Und dass wir das geschafft haben, das in eineinhalb Jahren zu bauen, mit so einer geringen Finanzierung… Heute sagen alle: Der Bau hat nur 31 Millionen Euro gekostet? Eine große Leistung von allen Mitstreitern. Und das wurde dann als Politikum benutzt. Das war eine harte Zeit. Plötzlich wird einem Unlauterkeit vorgeworfen und man kann sich nicht wehren. Ich habe mich also nicht mehr gewehrt, es war ja sinnlos.
Nach dem Ende des Tempodroms haben Sie sich umorientiert, leben heute in Brandenburg und bieten Pferdetherapien für Kinder und Erwachsene an.
Nach dem Prozess hatte ich eine schwere Zeit. Ich war erst krank und dann arbeitslos. Ich hatte ein wirkliches Tief – aber auch ein wunderbares soziales Netz. Ich habe mich gefragt: Wie geht es weiter? Als ich angefangen habe, mit Pferden zu arbeiten, war ich schon 60. Die Idee zu dieser Arbeit hatte ich schon früher, weil ich eine Ausbildung als Therapeutin hatte, eine Stute, und ich habe Wanderreiten gemacht. Und im Tempodrom habe ich ja auch immer mit Pferden gearbeitet. Ich wollte das gerne verbinden: Die therapeutischen Kenntnisse und meine Fähigkeit mit Pferden.
Der Kabarettist Arnulf Rating, beim Tempodrom von Anfang an mit dabei, schreibt in seiner Schlussbetrachtung, Sie seien eine „unmögliche Ermöglicherin“ gewesen, also eine, „die für unmöglich Gehaltenes auf sehr ungewöhnliche Weise möglichen machen konnte“. Sehen Sie sich auch so?
Ja, das hat angeklungen. Ich glaube, was ich wirklich gut kann, ist Integrieren und Dranbleiben. Sie haben gerade danach gefragt, warum etwas auf Dauer funktioniert – und das gehört dazu. Dranbleiben, auch wenn’s schwierig wird.
Irene Moessinger: Berlin liegt am Meer, 464 Seiten, erschienen bei Galiani, 26 Euro.