Für Manfred Drennig bestimmt dieses Geben und Nehmen seit Anbeginn der Menschheit gesellschaftliches Handeln: zunächst als reine Überlebensstrategie und schließlich als Verhaltenslogik
komplexer Systeme. Getauscht würden jedoch nicht nur Waren und Dienstleistungen. So sei auch die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat ein Tauschhandel für Sicherheit, gottesfürchtiges Handeln
für eine Endlohnung im Jenseits. Sogar scheinbar selbstloses Handeln gegenüber seinen Mitmenschen zur Steigerung der Anerkennung sei nichts anderes als Tauchgeschäft.
Jedoch änderten sich die Rahmenbedingungen über die Jahrhunderte. Drennig unterscheidet drei Weltbilder. Personelle, auf familiär geprägte Stammesstrukturen bezogene Denkmuster existierten
bereits vor den ersten Hochkulturen. Identität erfolge hier über die Identifikation mit der eigenen Gruppe. Normative Systeme hingegen orientierten sich an Normen und Werten, die in Gesetzen
fixiert und durch die Religion fundiert wurden. Das Zeitalter der Aufklärung, so der Autor, brachte die als göttlich gegebene Ordnung der Gesellschaft ins Wanken. Heraus bildete sich ein
nutzenorientiertes System, in welchem die Grundsätze von Effizienz und Leistungsfähigkeit das gesellschaftliche Handeln prägten.
Historische Perspektive und aktuelle Probleme
Dieses Gedankenmodell wendet der Autor auf die Geschichte an und untersucht zunächst blickpunktartig gesellschaftliche Prozesse. Er vergleicht die normative Gesellschaftsstruktur Deutschlands
im 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der stark nutzenorientierten Englands oder der Vereinigten Staaten. Auch die kommunistische Zeit in Osteuropa und deren Scheitern thematisiert
er. Drenning stellt zweierlei heraus: Einerseits, dass menschliches Handeln durch gesellschaftliche Strukturen und deren Verhaltenslogik bestimmt wird und andererseits den Siegeszug des
nutzenorientierten Systems.
Das folgende Kapitel fokussiert sich auf die heutige Situation. Ins Zentrum der Beobachtung rückt der Autor hier zuerst den Begriff der Macht. Dieser trete auch in der Sprache als
Deutungshoheit in Erscheinung und ermögliche es, den gesellschaftlichen Tausch zu beeinflussen. So wird der Tausch zur Täuschung.
Dann skizziert Drennig die sich aktuell durch die Faktoren Globalisierung und Internet stark verändernde Lebenswelt. Dabei reißt er die Problemfelder Arbeitslosigkeit, das Auseinanderklaffen
der sozialen Schere und die zunehmende Gewalt an.
Keine einfache Lösung in Sicht
Die Politik scheint demgegenüber keineswegs Instanz zur Lösung dieser Probleme zu sein, im Gegenteil. Im Sinne der Nutzenorientierung seien die Parteien auf die Maximierung ihrer
Stimmenanteile orientiert, weniger auf Gestaltung. Diese werde systemimmanent auch mittels ausgeuferter Bürokratisierung und übertriebener Gesetzesregulierung erschwert. Ohnehin sei in zunehmend
komplex gewordener Moderne die Politik als zentrales Gestaltungsorgan überfordert.
Drennigs Fazit wartet daher auch nicht mit einer Antwort auf. Klar ist für ihn lediglich, dass sie weder durch die heutige Politik und schon gar nicht in einer wie auch immer gearteten
sozialistisch-kommunistischen Utopie zu finden sein wird. Das nutzenorientierte System und sein Grundsatz der Effizienzmaximierung ist nach Drennig gesellschaftlich alternativlos. Diesem Axiom
müsse jedes Lösungskonzept Rechnung tragen.
Interessantes Modell
Das vorgelegte Buch von Manfred Drennig bietet zweifelsohne ein interessantes Modell zur Betrachtung unserer Gesellschaft. Immer wieder legt er den Finger in die Wunden unseres Systems. Er
bindet die Überlegungen großer Denker wie etwa Habermas, Foucault und Luhmann in seine Ausführungen ein. Das macht es jedoch dem Leser nicht immer einfach, dem Roten Faden der Gedanken zu folgen.
Drennigs Modell eines seiner Umwelt angepassten, stets nach Eigennutz strebenden Individuums erinnert zweifelsohne an das Bild des Homo Oeconomicus. Dessen Konzeption wendet er nicht nur auf die
Wirtschaft sondern auf die gesamte Gesellschaft an, was nicht ohne Widersprüche gelingt. Die hierbei erfolgte Reduktion menschlicher Verhaltensimpulse steht in klarem Gegensatz zu Drennigs eigenem
Befund einer komplexer gewordenen Moderne, die er mit teils übertriebener Skepsis im Kontrast zur teils verklärten Vergangenheit schildert.
Diese der Realität unangemessene Reduktion wird auch in seinem evolutionär gedeuteten Dreischritt vom personellem über das normative zum nutzenorientierten System deutlich. Tatsächlich
erscheint die heutige Gesellschaft vielmehr als Mixtur aller drei Systeme. Es fällt auf, dass Drennig seine kritischen Überlegungen zur Gesellschaft fast ausschließlich auf Deutschland und
Österreich fokussiert. Die Frage warum dieselben Herausforderungen der Moderne in anderen Ländern trotz sehr ähnlicher Gesellschaftsspielregeln erfolgreicher bewältigt wurden, beantwortet er nicht.
Die Klärung der Frage "Warum die Gesellschaft so ist wie sie ist" hätte erfordert, weiteren Faktoren einzubeziehen, die über Drennigs Modell hinausgehen.
Ulf Lindner
Manfred Drennig: Tauschen und Täuschen, Warum die Gesellschaft ist wie sie ist, Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2008, geb., 500 Seiten, 24,95 €. ISBN: 978-3-8000-7272-9
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