Kultur

Tanz auf der Baustelle

von Christian Janssen · 2. Oktober 2010
placeholder

Die Baumaßnahmen waren nicht das einzige Problem, mit dem sich das Staatsballett Berlin am 28. September 2010 auseinanderzusetzen hatte. Nachdem Mitglieder des Orchesters der Deutschen Oper Berlin Flugblätter an eintreffende Gäste verteilt hatten, war für den weiteren Verlauf nichts Gutes zu erahnen. In der Tat traten der Intendant des Staatsballettes Berlin Vladimir Malakhov und der Geschäftsführende Direktor Georg Vierthaler vor das Publikum und verkündeten einen Warnstreik des Orchesters, das bei den aktuellen Tarifverhandlungen der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) eine höhere Vergütung durchsetzen wolle. Immerhin konnte das Publikum insoweit vertröstet werden, als das Orchester seine Arbeit nicht ganz einstellen wollte, sondern es sich lediglich eine Verzögerung um eine halbe Stunde ergeben sollte.

Die Zeit nutzte Dr. Christiane Theobald, Stellvertretende Intendantin und Sprecherin der Bundesdeutschen Ballett- und Theaterdirektorenkonferenz, um Georg Vierthaler einen symbolischen Scheck über den Betrag von 9.000,00 EUR zu überreichen. Da ein Teil der Eintrittsgelder diesmal der Dell'Era-Gedächtnis-Stiftung zugute kommen sollte - Antonietta Dell'Era war in den Jahren von 1879 bis 1909 als Königliche Hoftänzerin an der Königlichen Oper in Berlin engagiert gewesen und hatte vor ihrem Tode im Jahre 1945 verfügt, ihre Hinterlassenschaft solle dazu dienen, "erkrankten oder arbeitsunfähig gewordenen, bedürftigen Tanzkünstlerinnen der Berliner Staatstheater … oder deren Familie eine Beihilfe zur Ausbildung, zur Erholung oder in Krankheitsfällen zu gewähren" -, war der besagte Betrag für eine Zustiftung zugunsten der männlichen Tänzer gedacht.

Zur Überbrückung der Streikphase wurden für die Gäste auf Kosten eines Sponsors Sektflaschen en masse geöffnet. Noch bevor das Orchester endlich zu musizieren begann, wurde die Streikmaßnahme seitens des Publikums mit kräftigen Buhrufen bedacht. Dies erklärte ein einheimischer Gast einem offensichtlich auswärtigen Besucher: "Das ist das Berliner Publikum. So sind halt die Berliner." Allerdings fanden sich im Publikum auch Sympathisanten, welche die Streikaktion mit Bravorufen unterstützten. Ruhe kehrte erst ein, als sich die Tänzer auf der Bühne für den Walzer des zweiten Aktes des Ballettes "Cinderella" des Komponisten Serge Prokofieff, und zwar in der Choreographie Vladimir Malakhovs, in Bewegung setzten. Danach erlebte das Stück "SHOWTIME", das Eric Gauthier choreographiert hatte, seine Uraufführung. Die Solotänzerin Elisa Carrillo Cabrera und der Erste Solotänzer Mikhail Kaniskin tanzten ein leidenschaftliches Duett zur Musik "Sempe: Ich mag keine Klassik, aber das gefällt mir!". Bei Georges Bizets Melodien flammte der amour fou zwischen Carmen und Don José wieder auf. Zur Ermunterung der Liebenden, ihr Bestes zu geben, ertönte eine wie Vladimir Malakhov klingende Stimme: "Dancers, it's showtime!"

Daneben konnte sich das Publikum an mehreren Berliner Erstaufführungen erfreuen. Als "TANZ DER FRESKEN" tanzten die Solotänzerin Sebnem Gülseker, die Demisolotänzerinnen Sarah Mestrovic und Krasina Pavlova sowie die Gruppentänzerin Anastasia Kurkova den Pas de quatre des Ballettes "Das buckelige Pferdchen", das Cesare Pugni komponiert hatte. Zudem tanzten die Erste Solotänzerin Iana Salenko sowie die Solotänzer Rainer Krenstetter und Dinu Tamazlacaru den Pas de trois des Ballettes "Die Puppenfee" des Komponisten Riccardo Drigo. Außerdem zeigten die Erste Solotänzerin Beatrice Knop und der Erste Solotänzer Wieslaw Dudek nach Renato Zanellas Choreographie des Ballettes "Alles Walzer", wie sich ein emotionales Duett von der Wiener Walzerseligkeit abheben kann. Obendrein verkörperte der Erste Solotänzer Vladimir Malakhov einfühlsam und grazil den sterbenden Schwan zur gleichnamigen Musik des Komponisten Camille Saint-Saëns.

Zu sehen waren noch die Erste Solotänzerin Nadja Saidakova als Brünhilde und der Solotänzer Michael Banzhaf als Siegfried, die ein Duett des Ballettes "RING UM DEN RING" in der Choreographie Maurice Béjarts, und zwar zur Musik aus Richard Wagners Oper "Siegfried", tanzten. Mit dem Grand Pas de deux des Ballettes "Le Corsaire" in der Choreographie Marius Petipas endete der erste Teil der Veranstaltung; die Erste Solotänzerin Polina Semionova und ihr Bruder, der Erste Solotänzer Dmitry Semionov, ergänzten sich kongenial.

Den zweiten Teil der Veranstaltung nahm Max Bruchs Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 G-Dur op. 26 ein. Als Solisten bei Clark Tippets Choreographie taten sich vier Paare hervor: die Solotänzerin Elena Pris und der Solotänzer Leonard Jakovina, die Solotänzerin Corinne Verdeil und der Solotänzer Ibrahim Önal, Polina Semionova und Wieslaw Dudek sowie die Demisolotänzerin Stephanie Greenwald und der Solotänzer Marian Walter. Das musikalische Spiel des Violinisten Tomasz Tomaszewski gefiel nicht allen, denn ein Besucher raunte: "Was hat der sich denn da zusammen gefiedelt?" Die nächste Premiere steht übrigens für den 10. November 2010 an; dann wird in der Deutschen Oper Berlin eine Aufführung des Ballettes "MALAKHOV & FRIENDS" zu sehen sein.

Für eingefleischte Ballettfreunde hatte die Saison freilich schon am 15. September 2010 begonnen, als im Berliner Hotel "RITZ-CARLTON" ein biographisches Buch über Polina Semionova vorgestellt worden war. Der Regisseur und Schauspieler Gerhard Haase-Hindenberg hatte das ursprüngliche Zuhause sowie die Ausbildungs- und Wirkungsstätten der inzwischen weltberühmten, aber dennoch natürlich gebliebenen Tänzerin aufgesucht, um den erstaunlichen Werdegang des in ihren Bruder - Dmitry Semionov ist ebenfalls Tänzer - vernarrten Mädchens vom Rande Moskaus binnen weniger Jahre auf die angesehensten Bühnen der Welt nachzuvollziehen. Das entscheidendste Ereignis in ihrem Leben war wohl der Tag gewesen, als im Jahre 2002 die damals Siebzehnjährige von Vladmir Malakhov in der Akademie des Moskauer Bolschoi-Theaters entdeckt und sogleich als Erste Solotänzerin nach Berlin engagiert worden war. Insofern hatte ihre Großmutter (Babuschka) recht behalten: "Du wirst einmal eine große Ballerina sein! Ich weiß es!" Auf die Frage, ob man Polina Semionova fortan wieder öfter in Berlin werde tanzen sehen können, antwortete sie: "Ich hoffe." Das informative und zugleich kurzweilig geschriebene, in der EGMONT Verlagsgesellschaften mbH erschienene Buch für den Kaufpreis von 16,95 EUR heißt: "POLINA AUS DER MOSKAUER VORSTADT AUF DIE GROSSEN BÜHNEN DER WELT".

Autor*in
Christian Janssen

Freier Journalist, Lichtbildner und Rechtsanwalt (Schwerpunkte Medien- und Vertragsrecht)

0 Kommentare
Noch keine Kommentare