Kultur

„Stalins großer Bluff“

von Dagmar Günther · 12. November 2007

Am 10. März 1952 lässt Stalin den diplomatischen Vertretern der Westmächte in Moskau die so genannte Stalin-Note zukommen. Darin drängt er zum Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland. "Deutschland wird als einheitlicher Staat wiederhergestellt", heißt es in dem Schreiben. Und der Diktator fordert die Neutralität des Landes.

Chance zur Wiedervereinigung verpasst?

Offiziell reagieren die Westmächte nicht auf Stalins Vorschlag. In internen Telegrammen heißt es, die Antwort solle schnell und ablehnend gegeben werden. Adenauer, so Ruggenthaler, war von Stalins "Störmanöver" nicht überrascht. Hatte der deutsche Bundeskanzler mit seiner Einschätzung die Chance zur deutschen Einheit verspielt? Was, wenn er Stalins Vorschlag angenommen hätte? "Stalin hat es nicht ernst gemeint", so Peter Ruggenthaler bei der Buchvorstellung.

Ulbricht als geistiger Vater

Die Stalin-Note sei ein machtpolitischer Propaganda-Schachzug gewesen. Ihre Planung habe mehr als ein Jahr vor ihrer Aushändigung, im Februar 1951, begonnen. Die geistige Vaterschaft liege wohl bei Walter Ulbricht. In den Akten des Politbüros heißt es, Ulbricht denke, dass die Sowjetunion einen Vorschlag über die Neutralisierung Deutschlands einbringen solle, "mit dem Ziel der Entlarvung der amerikanischen Kriegshezter".

Ulbricht war sicher, dass die USA sich nicht von der Remilitarisierung Westdeutschlands abbringen lassen würden, "und dies nutzte er zur Konsolidierung seiner Macht", erläutert Ruggenthaler. Die ablehnende Haltung des Westens lieferte den erhofften Vorwand, den Westmächten die Schuld an der Deutschen Teilung zu geben, und den DDR-Machtapparat aufzubauen.



Testfall Österreich


Mit der Aushändigung der Stalin-Note sei der Kreml den Westmächten zwei Tage zuvor gekommen. Denn diese hätten ihrerseits eine Propaganda-Aktion geplant: Am 13. März 1952 unterbreiteten sie dem Kreml eine neue Initiative in der Österreichfrage: Der so genannte Kurzvertrag sollte die Besatzungssoldaten verpflichten, Österreich zu räumen. Tatsächlich sei es den Westmächten mit ihrem Vorschlag darum gegangen, Stalins Bereitschaft über Deutschland zu sprechen, zu testen, so Ruggenthaler.

Verschlossene Akten

Ruggenthalers Analyse stützt sich auf Aktenmaterial aus dem Bestand Vjaceslav Molotovs, das bis 2004 nicht zugänglich war. Der von Stalin mehrfach perfide gedemütigte und entmachtete ehemalige Außenminister Molotov spielte in der Entstehungszeit der Stalin-Note eine bedeutende Rolle. Die sowjetischen Geheimdienste erstatteten ihm direkt Bericht. Stalin ließ sich in seinen letzten Lebensjahren nur die essentiellsten Informationen - zumeist mündlich - vorlegen. In Molotovs Akten hingegen finden sich alle wichtigen Dokumente, darunter interner Schriftverkehr.

In seinem Buch hat Peter Ruggenthaler die relevanten Schriftstücke veröffentlicht und analysiert. "Stalins großer Bluff" heißt seine Antwort auf die viel diskutierte Frage nach dem Wert der Stalin-Note für den Westen.



Birgit Güll


Peter Ruggenthaler (Hrsg.). Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung. Oldenbourg Verlag München. 2007. 256 Seiten. 24,80 Euro. ISBN 978-3-486-58398-4

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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