Kultur

„Staatsaffäre“ – Die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen

von Anton Maegerle · 23. Juli 2014

Der von dem Berliner Journalisten Andreas Förster herausgegebene Sammelband „Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur“ geht offenen Fragen im Aufklärungsdesaster der Verbrechen  des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) nach.

Der NSU um die Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe konnte ungehindert von der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur in den Jahren 2000 bis 2007 mordend durch die Bundesrepublik ziehen. Mindestens zehn Menschen wurden in München, Nürnberg, Kassel, Hamburg, Dortmund, Kassel und Heilbronn vom NSU erschossen. Circa 25 weitere Personen wurden bei drei Bombenattentaten in Köln und Nürnberg zum Teil schwer verletzt.

Politisch brisante Recherchen

Bis auf die ermordete Polizistin Michele Kiesewetter und ihren schwer verletzten Kollegen Martin Arnold hatten alle Opfer einen Migrationshintergrund. Keiner der Morde und keiner der Anschläge ist bislang schlüssig erklärt. Die rassistische Mordserie war das größte rechtsextreme Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

„Geheimsache NSU“ stellt die offizielle Darstellung der Abläufe, Verantwortlichkeiten und Ursachen des NSU-Terrors in Frage. Das politisch brisante und spannend zu lesende Zeitdokument legt in investigativen Recherchen offen, dass Behörden bei der Aufklärung der Taten des Jenaer Neonazi-“Trios“ immer wieder ablenken, Zusammenhänge vertuschen und so die Öffentlichkeit täuschen.

Erst Vernichtung von Akten, später Geheimdienstkoordinator

Die Autoren des 315 Seiten umfassenden Bandes sprechen von einer „Staatsaffäre“. Als „schändlich“ bezeichnet es Förster, dass mit Klaus-Dieter Fritsche, einer der Hauptverantwortlichen für das Versagen der Geheimdienste und Mitverantwortlicher für die rechtswidrige Vernichtung von Akten im Bundesamt und diversen Landesämtern für Verfassungsschutz, heute als Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt die Nachrichtendienste anleitet.

Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke beschreibt Fritsches Gastspiel vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages als „eine Mischung aus Blockade und Vertuschung“, die von einem „autoritären Amtsverständnis“ zeuge und „durchaus als Verachtung gegenüber der politischen Aufklärungspflicht des Parlaments interpretiert werden“ könne.

Alles nur Zufall?

Zehn Autoren, die sich seit dem Bekanntwerden der NSU-Mord- und Terrorserie um die Bearbeitung dieses Komplexes mühen, gehen in dem Sammelband unter anderem der Frage nach, warum der Mord an der 22-jährigen Polizeibeamtin Michele Kiesewetter am 25. April 2007 im baden-württembergischen Heilbronn nur den NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zugeschrieben wird, wenn doch so viele Zeugenaussagen auf einen größeren Täterkreis hindeuten.

Gruppenführer von Kiesewetter war Timo H.. Der Polizeibeamte hielt sich zum Zeitpunkt des Mordes nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt auf. H. gehörte zeitweilig der rassistischen Kapuzentruppe „European White Knights of the Ku Klux Klan“ (EWK KKK) an. Ihr Kopf, der Neonazi Achim Schmid, war langjähriger V-Mann des baden-württembergischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Der führende Klan-Mann Thomas Richter, Neonazi und V-Mann, kannte sowohl H. als auch Mundlos. Alles nur Zufall? fragen die Autoren von „Geheimsache NSU“.

Verfassungsschützer am Tatort will Mord nicht mitbekommen haben

Sie fragen auch, ob es Zufall sein kann, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme zur Tatzeit des neunten NSU-Mordes vor Ort ist und doch nichts mitbekommen haben will. Der Mann, der einst den Spitznamen „Klein Adolf“ trug, beteuerte bei seinen Zeugenaussagen beim NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht gebetsmühlenartig, nichts gesehen oder gehört zu haben als am 6. April 2006 gegen 17 Uhr zwei Schüssen den 21-jährige Halit Yozgat töteten.

Die Autoren werfen die Frage auf, warum die eiskalten Mörder Böhnhardt und Mundlos sich am 4. November 2011 im thüringischen Eisenach plötzlich das Leben genommen haben, als sich Streifenbeamte ihrem Wohnwagen näherten. Sieben Waffen, alle durchgeladen und griffbereit für den Ernstfall, lagen im Wohnwagen. Wie erfuhr Zschäpe im sächsischen Zwickau von dem Tod, der sie zur überstürzten Flucht und zum Verwischen von Spuren treibt?, fragen die Autoren.

Der Staat und die Rechtsterroristen

„Staatliche Aufbauhilfe“ heißt das Kapitel des Buches, das beschreibt wie das Thüringische Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) maßgeblich daran mitwirkte, dass der Freistaat zu einer Neonazi-Hochburg wurde. Beleuchtet wird der Neonazi und V-Mann Tino Brandt, Mitinitiator und Führungskopf des Neonazi-Netzwerkes „Thüringer Heimatschutz“ (THS), der Keimzelle des NSU. Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos waren regelmäßig bei Kameradschaftstreffen des THS dabei.

Nach dem Lesen von „Geheimsache NSU“ bleibt eine lange Liste offener Fragen. Sich diesen zu nähern und sie aufzuklären, muss Aufgabe eines zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages und entsprechender Ausschüsse in von NSU-Taten betroffenen Bundesländern sein. Rechtsterroristen dürfen in einem Rechtsstaat keine „Staatsaffäre“ auslösen.

Andreas Förster (Hrsg.): „Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur“, Klöpfer & Meyer-Verlag, Tübingen 2014, 315 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-86351-086-2

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Anton Maegerle

ist freier Journalist.

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