Nicholson holt weit aus, wenn er seine Geschichte mit der Entdeckung Amerikas beginnen lässt und die hemmungslose Ausbeutung der Neuen Welt durch die spanischen Eroberer darstellt. Aber er
liegt wohl nicht falsch, wenn er die versklavten Indianer, die für ihre neuen europäischen Herren die Edelmetalle aus den Minen herausholen mussten, zu den "ersten amerikanischen Arbeitern" (S. 23)
erklärt. Später legen Sklavenhandel und -arbeit die Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufstieg der USA. Nicholson sieht im ausbeuterischen und menschenverachtenden System der Plantagensklaverei
in den amerikanischen Südstaaten den Vorläufer des Industrieproletariates.
Von der Sklaverei zum Abolitionismus, vom Elend des schwarzen Lumpenproletariates in den Industriezentren des amerikanischen Südens zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur
Bürgerrechtsbewegung eines Dr. Martin Luther King - wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch Nicholsons das Thema der Rassendiskriminierung und des mühsamen und jahrhundertelangen Kampfes der
afroamerikanischen Bürger (und Arbeiter) um ihre Emanzipation. Ein Kampf übrigens, bei dem sie nicht immer auf die Unterstützung der Gewerkschaften zählen durften. Viele Facharbeitergewerkschaften,
die seit Ende des 19. Jahrhunderts im Dachverband American Federation of Labour (AFL) zusammengeschlossen waren, taten sich schwer mit der Aufnahme von schwarzen Kolleginnen und Kollegen. Bitter
bemerkt der Autor, dass sich weite Teile der organisierten amerikanischen Arbeitnehmerschaft nicht nur mit der gesetzlich verordneten Rassentrennung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts abfanden,
sondern auch selbst den Rassismus der herrschenden Eliten übernahmen.
Nicht nur bei diesem Thema geht der Autor mit den amerikanischen Arbeitnehmerorganisationen hart ins Gericht. Sie hätten nur dann Erfolge erzielt, "wenn es im Interesse des Kapitals lag" (S.
16). Sie seien lange Zeit von Autokraten geführt worden, die sich in ihrem Hurra-Patriotismus kaum von den konservativsten Kräften des Landes unterschieden hätten. Sie hätten systematisch die
Konzepte einer anderen (sozialistischen) Gesellschaftsordnung in ihren Mitgliedschaften unterdrückt und wären gänzlich ungeeignet gewesen, in den USA ein proletarisches Klassenbewusstsein nach
europäischem Vorbild zu entwickeln. Stattdessen habe man sich zu Komplizen der antikommunistischen Hysterie in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gemacht, sei sich nicht zu schade
gewesen, gemeinsam mit amerikanischen Geheimdiensten lateinamerikanische Diktatoren zu stützen und habe zeitweilig Organisationsstrukturen entwickelt, die solchen von Gangsterbanden glichen
(S. 275).
Natürlich kann Nicholson dieses harsche Urteil mit Fakten belegen. Allerdings drängt sich doch bei der Lektüre des Buches zuweilen der Eindruck auf, dass hier die geballte Enttäuschung eines
Intellektuellen zu Papier gebracht wurde, dessen Herz links schlägt (und das ist gut so) - dem aber leider die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt, so wie wir es aus der marxistischen Theorie
kennen, abhanden gekommen ist.
Aber Nicholson weiß auch von großen Erfolgen der amerikanischen Gewerkschaften zu berichten, wenn er vom "heroischen Zeitalter" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreibt
(S. 115) oder die gewerkschaftlichen Errungenschaften im Kontext des "New Deal" in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts darstellt (S. 233). In diesen glorreichen Zeiten gab es neben
den Helden der großen Streikbewegungen (z.B.: für den 8-Stunden-Tag, die Abschaffung von Kinderarbeit oder gegen Lohnkürzungen in den Minen) unter den kämpfenden Arbeitnehmern auch viele hundert
Märtyrer. Detailgenau und drastisch schreibt Nicholson von Lynchmorden, von niedergeschossenen Frauen und Kindern an Maifeiertagen, von Justizmorden an Arbeiterführern (das hierzu beigefügte
Bildmaterial ist nichts für zart Besaitete). Auch in den USA musste die Arbeiterschaft für ein bisschen sozialen Fortschritt stets einen hohen Preis bezahlen.
Aber die Zeiten der Helden und Märtyrer sind für die amerikanischen Gewerkschaften schon lange vorbei. Heute schüchtern keine bewaffneten Mitarbeiter der Detektei Pinkerton mehr streikende
Arbeiter ein, heute kümmern sich gewiefte Anwälte im Auftrag der Konzerne um das "union busting" und nutzen die leider zahlreichen legalen Möglichkeiten, einen Betrieb gewerkschaftsfrei zu halten.
Und die Pflege der politischen Landschaft ist dem amerikanischen Kapital Milliarden US-Dollar wert, die in Präsidentschaftswahlkämpfe der Republikaner gesteckt werden. Auch davon weiß Nicholsons
Buch zu berichten, genauso wie über die vergeblichen Versuche der Gewerkschaften, mit eigenen Wahlkampfspenden an Kandidaten der Demokratischen Partei gegen die Übermacht der Konzerne anzukämpfen.
Je näher Nicholsons geschichtlicher Abriss an die Gegenwart heranreicht, umso pessimistischer gerät seine Analyse. Angesichts drastisch sinkender Mitgliederzahlen in den letzten beiden
Jahrzehnten bei fast allen Gewerkschaften im Dachverband AFL-CIO und dessen schwindendem politischen Einfluss in Washington sieht er den Weg der US-Gewerkschaften in die Bedeutungslosigkeit
vorgezeichnet. Die konstatierte Schwäche der Gewerkschaften ist für ihn eine Gefahr für die Demokratie
(S. 379). Er appelliert daher eindringlich an die amerikanischen Arbeitnehmer-Organisationen, sich von unkritischem Patriotismus freizumachen und meint damit wohl, sich von der Bush-Regierung
nicht als Apologeten ihrer kriegerischen Nahost-Abenteuer missbrauchen zu lassen. Und er fordert leidenschaftlich dazu auf, sich rassistischer Vorurteile zu entledigen und sich gegen jegliche
Diskriminierung arbeitender Menschen zur Wehr zu setzen. Nur wenn sich die amerikanische Arbeiterbewegung auf sich selbst besinne, auf "ihre ureigensten Träume und Ziele" (S. 380), könne sie die
demokratischen Traditionen der Nation wieder beleben.
Philip Nicholsons Darstellung der Höhen und Tiefen in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung ist vor allem eine ehrliche, zuweilen auch ernüchternde Bestandsaufnahme.
Gewerkschaften haben es im Heimatland des Turbokapitalismus schon immer schwerer gehabt als anderswo, das wird nach Lektüre seines Buches klarer.
Die USA setzen im Zeitalter der Globalisierung in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen weltweit die Standards, nicht nur bei alkoholfreien Erfrischungsgetränken und
Pop-Musik. Die industriellen Beziehungen, das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital nach amerikanischem Muster zu ordnen, gehört nicht zu den Errungenschaften, die das "alte Europa" kopieren
sollte. Auch diese Erkenntnis findet in Philip Nicholsons Arbeit ihre Bestätigung.
Philip Yale Nicholson "Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA", vorwärts-Buch, Berlin, 2006, 415 Seiten, 38 Euro, ISBN 3-866-02980-2
Michael Sommer
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.