Kultur

"So wichtig wie die Jungfrau Maria“

von Martin Schmidtner · 27. Mai 2010
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Aus seiner Zeit als Uni-Rektor blieb die Geschichte haften, dass der Mathematiker und Philosoph Antanas Mockus schon mal in einer Vorlesung störenden Studenten sein blankes Hinterteil gezeigt hat - ein unkonventioneller Politiker mit einem recht konventionellen Konzept, das auf die Einhaltung rechtlicher Spielregeln pocht.

Antanas Mockus ist Sohn litauischer Einwanderer in Kolumbien

Und nachdem am Mittwoch ein kolumbianischer Journalist die Geschichte von Jurgis Didžiulis veröffentlicht hat, der ebenfalls als Sohn litauischer Eltern in Kolumbien geboren wurde und im Jahr 2003 nach Litauen zurück ging, dort Freunde in der litauischen Musikszene fand und die Gruppe InCulto gründete, mit der er heute Abend im zweiten Semifinale für Litauen an den Start geht - quillt die Mailbox des litauischen Pressechefs hier in Oslo über, wie er uns gestern erzählte. Jedes kolumbianische Medium möchte nun über InCulto und den Song Contest berichten, weil solch eine Story eben gut zu der Geschichte des Präsidentschaftskandidaten passt. vorwärts.de war jedoch schneller und hat bereits am Wochenende mit Jurgis Didžiulis gesprochen.

Lass mich bitte mit einer Kostümfrage anfangen. Kleiderwechsel ist ein traditionelles Thema beim Eurovision Song Contest, es gab ihn sehr oft zwischen den 70er und 90er Jahren. Und Ihr reißt Euch zum Ende Eures Auftritts auch die Hosen runter und tanzt in Glitzer-Höschen. Wir haben uns ja anfangs gedacht, wollt Ihr damit die Zuschauer ködern - oder gehören die zu Euren regulären Auftritts-Klamotten?

Nein, wir tragen sie sehr, sehr selten. Die Idee für diese Höschen kam uns, weil der ESC schon immer für sexuelle Befreiung und Offenheit stand. Und als wir den Auftritt planten, haben wir unsere Instrumente vermisst, die wir sonst live spielen - da worden wir einen besonderen Akzent setzen, um uns wohl zu fühlen. Außerdem haben wir diesen Techno-Rhythmus am Ende und da wollten wir was Entsprechendes mit reinbringen. Immerhin ist die Teilnahme am ESC was besonderes, und das wäre dann wie zu einem Empfang zu gehen und keinen Smoking zu tragen - wir wollten etwas Besonderes.
Und als wir dann die Idee entwickelt haben, sagten eine Menge Leute: Ja! Richtig! ESC steht für sexuelle Befreiung und Toleranz. Außerdem erzeugt es einen hohen Ausschlag auf der Aufmerksamkeitsskala der Medien, darum hat uns das gefallen.

Du hast Techno erwähnt. Und wir konnten nachlesen, dass Du als Du nach Litauen kamst, die dortige Club-Szene faszinierend gefunden hast. War es eine Techno-Szene?

Nein, es war mehr House. Aber elektronische Musik ist oft nur eine Modeerscheinung. Mal ist sie in, dann wieder out. Elektronische Musik hat viele Stilrichtungen aufgegriffen und nun gibt es alles Mögliche wie Electronic Rock.
Elektronische Musik als Ausgangspunkt mögen wir gar nicht, weil wir dann keine Live-Instrumente spielen können. Ich meine, wir haben eine so gute Ausrüstung auf der Bühne, wir lieben es, ganz organisch Musik zu machen - drum sind wir nie in elektronischer Musik aufgegangen, sondern haben einzelne Stilrichtungen der elektronischen Musik genommen und sie in unsere Live-Musik eingebaut. Also eher das Gegenteil.

In manchen Liedern arbeiten wir dann mit modernen Synthesizern und all so was, aber hier natürlich nicht. Aber wir bauen das gerne ein. Das Hauptprinzip von InCulto ist es, musikalische Cocktails zu mixen und zu sehen, wie es funktioniert. Wir hören uns einfach gerne alles an und sagen dann: Ja, das ist interessant, das könnten wir adaptieren. Aber elektronische Musik ist eben nicht unser Ausgangspunkt.

Kannst Du uns etwas über die Musikszene in Litauen erzählen? Wie ist es für einen jungen Musiker, Geld zu verdienen oder….

(Unterbricht) Absolut beschissen. Es ist schlichtweg unmöglich. Immerhin waren das die größten Einwände gegen die ganze InCulto-Sache, damit hat man praktisch bewusst entschieden, keinen ordentlichen Job zu haben. Wir lieben es, Musik zu machen - aber was sollten wir tun, um davon auch leben zu können? Einer der Kompromisse, die wir eingegangen sind, war zu sagen: Ja, wir wollen auch einem breiteren Publikum gefallen. Viele Künstler suchen sich ein Segment auf dem Markt und bleiben dann dort. Also sagen sie: "Ich mach Emo, also bin und bleibe ich ein Emo". Oder: "Ich mache Ska, das ist meine Art von Musik, das ist meine Musik, da habe ich meinen Markt". Und sie sind dann vorsichtig mit crossover.
Wir mussten feststellen, dass dies in Litauen nicht funktioniert. Wir machten deshalb Musik, die beim 5jährigen genauso ankommt wie bei der 50jährigen. Das ist eine heikle Sache. 2007 waren wir an einem Punkt, wo wir etwas zu erfolgshungrig wurden und einfach etwas mehr Pop machen wollten - das war, denke ich, ein großer Fehler, von dem wir uns langsam erholen.
Mit anderen Worten: Es ist unmöglich in Litauen Musik zu machen. Die Regierung unterstützt nichts, es gibt keinen Markt für Musik - einfach schrecklich. Die Leute sind sehr erfolgshungrig, es gibt viel zu wenige, die einfach nur aus Spaß und Freude Musik machen. Sie sagen: Ich kann damit kein Geld machen, also lass ich es bleiben und höre auf mit der Musik. Leider gibt es musikalisch auch keinerlei Kooperation mit Estland, wo ein sehr guter und großer potentieller Musikmarkt wäre. Deshalb haben wir uns gesagt, der ESC könnte uns eine Chance geben. Es ist ein herausragender, sehr offener und sehr demokratischer Wettbewerb. Man kann unterschiedliche Beiträge sehen, von Malcolm Lincoln bis Miro. Ein Riesen-Spektrum. Es gibt Opernsänger und alles mögliche abgedrehte Zeugs und ich finde auch Nonsens ist etwas Positives. Darum nehmen wir gerne teil. Wir haben in Litauen alles gemacht, überall gespielt und alles versucht und sind das etwas leid.

Ist denn der Eurovision Song Contest ein Thema in Litauen? Interessieren sich die Leute dafür?

Es ist das allergrößte in Litauen - so wichtig wie die Jungfrau Maria.

In Eurem Lied singt Ihr: "Yes Sir we are legal / we are, / though we are not as legal as you / No Sir we're not equal no, / though we are both from the EU" Wen habt Ihr da vor Euch? Wer ist jener "Sir"?

Was wir eben so auf den Straßen erleben. Der "Zeig' mir Deine Papiere"-Typ zum Beispiel, der sagt: "Was macht Ihr hier? Verlasst diesen Platz". Persönlich hab ich so was mit einem Einwanderungs-Beamten erlebt. Ich komme nach Großbritannien und werde gefragt: "Haben Sie Geld? - Zeigen Sie's mir!" - "Haben Sie Kreditkarten? - Weisen Sie sie vor!" Und das, obwohl wir beide Angehörige der EU sind!
Gegen die Institutionen der EU kann und will ich damit nichts sagen - die EU macht gute Dinge, hat uns sozial abgesichert und weiter gebracht, keine Frage. Aber dennoch leben Bürger in der EU, die sich nicht gleichwertig fühlen können. Weil sie einen etwas dunkleren Teint haben, aus Polen oder Litauen kommen oder von außerhalb der EU, aus Weißrussland oder Russland.
Mit unserem Lied wollen wir denen sagen: Ihr könnt Euch trotzdem gut fühlen. Der Song an sich ist deshalb auch nicht politisch, egal was drüber gesagt wird. Wir singen davon, dass wir beschissene Zeiten hinter uns haben und dass es uns auch jetzt nicht gut geht, aber ich kann trotzdem das Beste aus mir machen, hart arbeiten und dann kann ich darüber lachen und anfangen zu tanzen, deshalb "Get up and dance…"

Ihr seid in den Wochen vor dem Konzert enorm herumgekommen. Auf Eurer Website konnte ich immer lesen, wo Ihr grade aufgetreten seid. War das sehr stressig?

Es war jede Menge Spaß!

Mochten Euch die Leute?

Sie haben es geliebt. Sie lieben die Annäherung von Pop und Rock und das lässt mich hoffen, dass sich der Musikmarkt vielleicht etwas ändert. Es gibt inzwischen auch viele wirklich gute Gruppen und Projekte auf dem Musikmarkt, aber wenn Du damit nichts zu tun hast….
Wir können den Leuten zeigen, wie man sich selbst vermarktet. Geht raus auf die Straßen, spielt Eure Musik den Leuten vor - das ist keine verlorene Zeit. Sie kaufen Euch Eure CDs gerne ab, wenn ihnen Eure Musik gefällt. Sie bleiben stehen und mögen, was man macht.
Das ist nichts Innovatives, nichts wirklich Neues: 2008 gab es die Könige der Straße (Kraljevi ulice) aus Kroatien, die haben etwas ganz ähnliches gemacht, das waren auch Straßenmusiker - allerdings haben sie das Internet nicht so stark wie wir eingesetzt.
Straßenmusik ist für uns eine Spaß-Revolution. Eigentlich hat die Tour sogar fast mehr Spaß gemacht, als es momentan der ESC tut. Auch wenn wir nur drei Stunden in einer Nacht geschlafen haben - anschließend auf der Straße zu spielen und die Leute sagen: "Das ist Klasse! Kann ich eine CD kaufen?" - das ist einfach großartig.

Habt Ihr es hier in Oslo auch schon gemacht?

Nein, wir werden es machen, aber momentan bin ich nicht ganz gesund und meine Jungs sind alle sehr müde. Aber wir werden es in der Finalwoche auf jeden Fall machen, auf der Straße proben und auftreten.
Denn darauf kommt es an - auch wenn die Stimme am Abend des Wettbewerbs nicht 100 Prozent bringt - die Herzen der Menschen zu erreichen, das ist wichtig.

Wir kennen ja Eure Choreografie und das wird bestimmt ein fulminanter Start des zweiten Semifinales!

Ja, wir haben diese Startnummer im zweiten Semi und deshalb wollten wir uns bekannt machen, damit die Leute trotzdem auch für uns anrufen. Wenn wir es ins Finale schaffen, mache ich mir keine Sorgen mehr, aber anzufangen ist hart. Es muss nur jemand den Fernseher etwas zu spät anschalten…

Über musikalische Cocktails hast Du vorhin schon gesprochen. Wie sieht es denn mit dem Zusammenleben von Russen und Litauern bei Euch in Litauen aus? Wie stark ist dieser Konflikt tatsächlich?

Wenn ich George Bush hasse, kann ich natürlich auch sagen: Ich hasse Amerikaner. Hebt man das auf diesen Level, dann kann man vom Konflikt sprechen. Aber wir haben so viele russische Freunde. Viele Russen haben nicht verstanden, was mit ihnen passiert ist nach dem Sozialismus. Sie fragen sich: Was soll der Mist?!
Es ist kein russisch-litauischer Konflikt. Es ist ein Konflikt von Ost trifft West oder, um es politisch zu sagen, zwischen Kapitalismus trifft auf Sozialismus. Eine ganze Region wurde plötzlich zu einer Zweigstelle des Westens und Menschen wurden von den einen wie von den anderen gelinkt und fragen sich jetzt: wo bleiben wir eigentlich?

Ist der Konflikt nur ein Thema extremistischer Gruppierungen?

Ich will ganz ehrlich sein: Ich denke, Nationalismus ist heutzutage eine der schlimmsten Dinge, die wir haben. Meiner Meinung nach hat sich der Nationalismus überdauert. Wenn sich Nationalstaaten entwickeln, dann ist es wichtig für die Menschen, ihre speziellen Werte und kulturelle Prinzipien, die uns vereinen.
Aber heute werden unsere kulturellen Werte und Prinzipien doch nicht mehr eingegrenzt und müssen keine Grenzen respektieren.
Es geht nicht mehr um mich als Deutschen oder Österreicher. Es geht um mich als jemand, der an den Wert von Menschlichkeit glaubt und an Menschenrechte. Als Beispiel:…(denkt nach)…zum Beispiel Schwule, die sagen: wir möchten unsere eigene Community haben, unsere eigenen Werte und Regeln - das ist so. Aber Nationalismus ist so rückwärts gewandt. Er schmeißt uns zurück. Die Werte, die uns vereinen sind Werte von Liebe, aber nicht, irgendwelche Flaggen zu schwenken. Beim Eurovision Song Contest finde ich das gut oder bei Fußballturnieren. Da können die Leute sagen: "Ich bin Deutscher und wir werden es schaffen. Los, geh ran an den Ball…"

Zu diesem nationalen Thema: Wenn jemand nichts weiß über Litauen und nach Litauen umziehen muss oder will, was würdest Du ihm erzählen? Gibt es besondere Eigenschaften, die Litauen vom Rest Europas unterscheidet.

Ja, wir sind sehr hartnäckig. In einem sehr positiven Sinn hartnäckig und zielgerichtet. Wenn wir etwas machen wollen, dann bleiben wir dran, kämpfen darum und machen es - (lacht) machen es vielleicht falsch, aber wir machen es. Darum gibt es uns noch. Wir sind schwer kennen zu lernen, aber wenn man uns kennt, sind wir wirklich sehr, sehr korrekte und freundliche Menschen. Es lohnt sich, uns kennen zu lernen. Und das Wichtigste ist unsere Fähigkeit, uns immer wieder neu zu erfinden.

Ward Ihr auch in Deutschland? Werdet Ihr nach dem Contest wiederkommen?

Ja, wir waren da. Ich war in Berlin, ich bin gern in Hamburg. Ich hoffe sehr, dass wir unsere Sache hier gut machen und sich ein paar Türen für uns öffnen. Ich bin gerne unterwegs, lerne gerne Menschen kennen: Konzerte geben und mit Leuten sprechen ist eine tolle Art von Tourismus. Auch mit der Straßenmusik. Es ist eine Sache, am Abend seinen Kontostand zu checken, aber eine andere, am Abend seine Karma-Punkte zu zählen.
Wenn ich viel Spaß habe, fühle ich mich energetisch erneuert.

Zum Schluss möchten wir Dich um drei kurze Worte über Lena und Satellite bitten?

Sie ist wunderschön. Sie ist….(überlegt)…ich wollte etwas sagen wie unbeschädigt (undamaged). Wie soll ich das sagen? Sie ist sie selbst, wie eine Jungfrau, auf eine verzückte Art und Weise. Unbeschädigt vom Trubel umsie herum. Mir fällt kein passenderes Wort ein. Sie ist frisch und unbeschädigt und sie ist intelligent und aufgeweckt. Ich wünsche Ihr viel Glück, auch wenn sie das von mir gar nicht mehr nötig hat.

Dafür wünschen wir Euch viel Erfolg. Deutschland kann im zweiten Semifinale zwar nicht werten, aber wir hoffen, unsere Leserinnen und Leser zu überzeugen, im Finale am Samstag für Euch anzurufen! Und erst mal: Gute Besserung!

Danke - mir geht es schon besser!

Das Interview führten Martin Schmidtner und Marc Schulte am vergangenen Samstag in Oslo. Die Interviewsprache war Englisch.



Litauens Beitrag zum diesjährigen Song Contest passt wie kein anderer ins Konzept der Eurovision. Der "Eastern European Funk" der Band InCulto greift das Gefühl vieler osteuropäischer Mitgliedsstaaten der EU auf, nicht wirklich zu Europa zu gehören. "You've seen it all before, we've got no taste, we're all a bore" beginnt provokativ der Song der litauischen Band, deren Name "Unkultiviert" bedeutet und die 2006 als bester baltischen Act beim MTV Europe Award nominiert war. Ihren Stil beschreiben sie selbst als Mischung aus südamerikanischen Rhythmen, Funk und einem Hauch von Punk. Auf großen Open-Air-Festivals, aber auch als Straßenmusiker sind sie in Fußgängerzonen europaweit aufgetreten. Immerhin hat sich im März die EBU (European Broadcast Union) als Veranstalterin des ESCs mit der Frage beschäftigt, ob der Song wegen eventueller politischer Inhalte überhaupt startberechtigt sei. Zum Glück wurde der Text nicht als problematisch eingestuft. "Wir sind zwar vor dem Gesetz gleich, aber wirklich gleichwertig sind wir nicht, obwohl wir wie Ihr in der EU sind. Wir bauen Eure Häuser und machen Euch den Abwasch" schmettert die Band dem europäischen Publikum heute Abend als Eröffnungsnummer des zweiten Semifinales entgegen. "Aber was soll's?", singen sie weiter, "wir sind hart im Nehmen, haben die Roten und zwei Weltkriege überlebt - irgendwann werdet Ihr es schon merken, dass Osteuropa mit im Spiel ist. Drum steht auf und tanzt zu unserer osteuropäischen Funk". Die fünf Musiker von InCulto setzen auf der Bühne ihre Stimmen und Kazoos als Instrumente ein, bieten eine wunderbare Choreographie und verbreiten gute Laune.

Ob sie sich denn als politische Menschen begreifen, wollte vorwärts.de bei ihrer Pressekonferenz wissen? Nein, sie seien nicht politisch, können mit Politik eigentlich nichts anfangen, aber wenn sie sähen, dass irgendwo Ungleichheit oder Unrecht geschieht, dann müssten sie sich zu Wort melden. So haben sie sich Anfang Mai mit den schwul-lesbischen Aktivisten solidarisiert, deren Gay Pride-Demonstration in Vilnius zunächst gerichtlich verboten worden war.

InCulto beim zweiten Semifinale überträgt einsfestival heute um 21 Uhr live - eine zeitversetzte Ausstrahlung bietet der NDR um 00:44 h an.

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Martin Schmidtner

ist Blogger für kulturelle Events.

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