Kultur

Sing for Democracy - der ESC in Baku

von Martin Schmidtner · 19. März 2012

Als wir vor drei Jahren zum Eurovision Song Contest nach Moskau fuhren, geschah dies mit einem sehr unguten Gefühl im Magen. Unterstützen wir mit unserer Anwesenheit und Berichterstattung ein undemokratisches politisches System? Können wir guten Gewissens eine Musik-Show feiern, während Oppositionelle und Regierungskritiker verfolgt oder gar ermordet werden? Können wir als schwule Eurovision-Fans in eine Stadt reisen, in der es keine queeren Rechte gibt?

Wir entschieden uns damals, am Song Contest teilzunehmen und ebenso die am gleichen Tag stattfindende Gay-Pride-Demonstration zu unterstützen. Wir hofften, durch unsere Berichterstattung wenigstens zur Wahrnehmung der Probleme beizutragen und nicht zuletzt auch innerhalb der Fangemeinde zu sensibilisieren. Denn damals in Moskau hielt sich die EBU (European Broadcasting Union) als Ausrichter des Song Contests auffällig zurück und verweigerte beispielsweise den Organisatoren der Pride-Demo Gespräche. Der Song Contest sei eine Musikveranstaltung und kein politisches Statement lautete sowohl die offizielle Begründung als auch die Stimmung unter vielen Fans.

Imageprojekt Song Contest

In diesem Jahr sieht dies erfreulicherweise schon etwas anders aus. Aserbaidschan hatte 2011 in Düsseldorf den Song Contest gewonnen und darf somit das Spektakel in diesem Jahr in Baku ausrichten. Ebenso wie Putin vor drei Jahren will der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew den Song Contest zur Selbstdarstellung nutzen und seinem Land ein modernes und aufgeschlossenes Image verpassen. Auch ist es gewissermaßen die Generalprobe für eine Olympiabewerbung Aserbaidschans, die natürlich demselben Zweck dienen soll.

Zwar ist Aserbaidschan aufgrund seiner Öl- und Gasvorkommen ein an und für sich reiches Land, doch verschrecken die politischen Verhältnisse bisher viele ausländischen Investoren. Diese sind allerdings politisch gerne gesehen und sollen durch Ereignisse wie den Song Contest angelockt werden.

Schon seit ein paar Jahren ist deshalb – ähnlich wie seinerzeit in Russland – das Projekt „ESC Baku“ ganz oben auf der Agenda des Präsidenten.
Parallel dazu wird die Hauptstadt Baku modernisiert und möchte mit gewaltigen Bauprojekten so etwas wie ein zweites Dubai werden. Dabei werden vorhandene Wohnquartiere kahlschlagartig geräumt und platt gemacht, um gläsernen-stählernen Wolkenkratzern, Sportstätten, Luxushotels und einem Kongress-Zentrum Platz zu machen. Und auch für den Eurovision Song Contest wurde ein Wohnviertel geräumt. Sowohl das ARD-Magazin ttt im Januar als auch im März das Magazin der Süddeutschen Zeitung haben davon ausführlich berichtet. Zwei Wochen nach dem Düsseldorfer Song Contest wurde am 31. Mai der Neubau einer Veranstaltungshalle, der so gennannten Christal Hall, beschlossen. Die Mieter der Wohnblöcke, die zuvor an deren Stelle standen, sollen keinerlei Räumungsbescheide erhalten haben, sondern durch Drohungen und Repressalien zum Aufgeben ihrer Wohnung gezwungen worden sein.

Autokratie ohne Opposition

Allein das macht einen unbekümmerten Song Contest im Mai schwierig. Doch vor allem die politischen Verhältnisse bereiten mehr als nur Unbehagen.

Eine Republik Aserbaidschan gab es erstmals seit dem 28. Mai 1918. Zuvor waren die Landstriche im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ein Spielball zwischen dem russischen Zarenreich und Persien gewesen. Nach den russisch-persischen Kriegen  wurde der noch heute gültige Grenzverlauf Aserbaidschans zu Persien und damit zum heutigen Iran gezogen; Aserbaidschan war Provinz des russischen Reiches.

Nach der Oktoberrevolution bestand die säkulare und westlich orientierte Demokratische Republik Aserbaidschan für etwa zwei Jahre, bis das Gebiet von der Roten Armee annektiert und zusammen mit Armenien und Georgien zur Transkaukasischen Sowjetrepublik zwangsvereinigt wurde. 1936 wurde Aserbaidschan eigenständige Sowjetrepublik.

Es waren natürlich die Erdölvorkommen, die die Republik für die Sowjets unverzichtbar machten. 1941 bestritt Aserbaidschan 75 % der gesamten sowjetischen Erdölproduktion und die Erdölfelder am Kaspischen Meer wurden zu einem Ziel des deutschen Kaukasus-Feldzuges.

Noch zu Zeiten der Sowjetunion eskalierte im Jahr 1988 die Situation in Berg-Karabach, einer sowohl von Armeniern als auch von Aserbaidschanern bewohnten Region Aserbaidschans. Der dortige Gebietssowjet beantragte in Abwesenheit der aserbaidschanischen Abgeordneten eine Überführung des Gebiets in die Hoheit Armeniens – dies bildete den Auftakt zu diversen Pogromen und 1992 zu einem offenen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan.

1989 beschloss der Oberste Sowjet in Baku die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, was eine militärische Intervention Moskaus unter General Lebed hervorrief, ähnlich wie zuvor in Tiflis und ein Jahr später in Vilnius. Doch im August 1991 erklärte sich die Republik nach dem Putschversuch in Moskau endgültig für unabhängig und wurde Gründungsmitglied der GUS.

Der ehemalige KP-Chef und Geheimdienstler Heydar Aliyev gründete die Staatspartei Neues Aserbaidschan und wurde 1993 erster Präsident. Der derzeitige Präsident  Ilham Alijew ist dessen Sohn und folgte seinem Vater nach dessen Herzinfarkt 2002 ins Amt – später offiziell durch Wahlen legitimiert, die jedoch als manipuliert gelten.

Ja, es gibt Wahlen und ja, es gibt mehrere Parteien, doch de facto wird das Land von einer Autokratie der Präsidentenfamilie regiert. Eine echte Opposition im Parlament gibt es nach wie vor nicht und nach wie vor verschwinden unliebsame Journalisten oder Oppositionelle. In einem Ranking von Pressefreiheit ordnet Reporter ohne Grenzen Aserbaidschan auf Platz 152 (von 178) ein! Der amnesty international Jahresbericht 2011 für Aserbaidschan beschreibt: „Drohungen, Schikanierungen und Akte der Gewalt gegen Journalisten und zivilrechtliche Aktivisten blieben weiterhin ungeahndet und führten zu einer zunehmenden Selbstzensur. Straf- und zivilrechtliche Maßnahmen zur Ahndung von Verleumdung wurden eingesetzt, um Kritiker zum Schweigen zu bringen, und führten zu Gefängnisstrafen und hohen Geldbußen gegen Journalisten.“

Im Zuge der grünen Revolution in anderen islamischen Ländern wurden auch in Aserbaidschan die sozialen Netzwerke zum Träger  der Proteste, was die Regierung konsequent zu verhindern sucht. „Gerade Blogger und AktivistInnen, die soziale Netzwerke für Proteste gegen die Regierung nutzen, sehen sich zunehmend Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt. So war die Festnahme des Studenten Jabbar Savalan im Februar 2011 der Beginn einer regelrechten Verhaftungswelle: Insgesamt wurden 17 Personen zu Haftstrafen verurteilt, nur weil sie ihre Meinung offen gesagt oder zu Protesten aufgerufen hatten“berichtet ai.

Queer in Aserbaidschan

Besonders interessiert uns natürlich auch die Lage von Lesben, Schwulen und Trans* im Austragungsland des ESCs. Auf dem Homophobie-Index der ILGA Europa rangiert Aserbaidschan weit unten im roten Bereich. Nur die Tatsache, dass es seit dem Jahr 2000 keine gesetzliche Verfolgung mehr gibt, beschert dem Land einen knappen Vorsprung vor Ländern wie Weißrussland oder der Ukraine. Doch ein offen queeres Leben existiert in Aserbaidschan nicht, noch nie gab es eine Gay Pride Demonstration und es gibt keine offiziellen Cafés, Bars oder Gruppen. Die meisten schwulen Aserbaidschaner nutzen das Internet als Kontaktmöglichkeit – immerhin gibt es inzwischen eine Website gay.az -, bleiben aber ansonsten ihr Leben lang im Verborgenen. Ehen – im besten Fall zwischen Lesben und Schwulen - werden zum Schein geschlossen, um die Familien zu beruhigen.

Die Polizei scheint nach verschiedenen Berichten nach wie vor extrem homophob zu agieren und das Auswärtige Amt warnt davor, dass schwule Paare verhaftet und nur gegen Zahlung eines Schweigegelds wieder freigelassen werden würden.
Auch ist Homosexualität immer wieder ein Mittel, politische Gegner zu denunzieren und lächerlich zu machen. Während einer Tagung der Adenauer-Stiftung wurden etwa zwei aserbaidschanische Journalisten und Oppositionelle in ihrem Hotelzimmer heimlich gefilmt und anschließend videotechnisch so montiert, als hätten sie gemeinsam masturbiert. Verbreitet wurde das Video von Lider TV, dem Sender eines Cousins des Präsidenten! Und Ali Karimli, Vorsitzender des Reformflügels der AFFP (Volksfront-Partei Aserbaidschans) wurde seit 2008 wegen angeblicher terroristischer Kontakte ebenso denunziert wie wegen angeblichen Homosexualität.

Korruption

Nicht weniger erschütternd sind die sozialen Verhältnisse. Zwar fließt bei einem Wirtschaftswachstum von 30 bis 40 % und durch verschiedene große Pipeline-Projekte seit der Unabhängigkeit enorm viel Geld ins Land und Luxusgeschäfte, Luxushotels und Luxuskarossen bilden das Flair der Innenstadt von Baku, doch bei den Menschen im Land kommt davon nichts an. Im Korruptions-Index von Transparancy International steht Aserbaidschan auf Rang 143 von 182. Baku-Reisende berichten immer wieder, wie erschütternd eine Fahrt von der Innenstadt durch die Außenbezirke der Stadt sein soll, auf der ganz schnell deutlich wird, wie wenige Menschen etwas vom neuen Reichtum des Landes haben. Dieses Ungleichgewicht birgt ein soziales Pulverfass, das bislang nicht abschätzbar ist. Der südliche Nachbar Aserbaidschans ist der Iran und von dort agiert eine gewaltige Propagandamaschinerie in Form von Predigern, die die Menschen in Aserbaidschan für ihre andere Art der islamischen Revolution begeistern wollen.
Bild: Wikicommons / GNU-Lizenz Don-kun

Ein Land im Krieg

Und nicht zuletzt befindet sich Aserbaidschan immer noch im Krieg mit Armenien. Der offizielle Status dieses Krieges lautet zwar seit 1994 „Waffenstillstand“, doch immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen in Berg-Karabach, das seitdem von Milizen der armenisch-stämmigen Bevölkerung und dessen Waffenstillstandslinie von Truppen Armeniens kontrolliert wird. Vorangegangen waren Massaker und Pogrome auf beiden Seiten sowie Verfolgung und Ausweisung der jeweiligen ethnischen Minderheiten. Verschiedene UN-Resolutionen haben den Abzug der armenischen Truppen gefordert, völkerrechtlich ist das Gebiet nach wie vor eine Region Aserbaidschans, doch eine Lösung des Konflikts scheint auch nach mehr als 20 Jahren nicht in Sicht. Vor allem auf der Propaganda-Ebene wird kräftig weitergekämpft – zuletzt um den Begriff des „Völkermordes“.

Gerade im Zusammenhang mit dem ESC hatten wir eigentlich damit gerechnet, dass Armenien seinen Auftritt in Baku für eigene Propaganda nutzen und bewusst gegen das Verbot politischer Texte, Äußerungen oder Symbole beim Song Contest verstoßen werde. Doch überraschenderweise hat Armenien seine Teilnahme inzwischen abgesagt. Begründet wird dies mit einer angeblichen Aussage des aserbaidschanischen Staatschefs, wonach kein Armenier sich irgendwo auf der Welt sicher fühlen dürfe. Vorangegangen soll dieser Äußerung der Tod zweier aserbaidschanischer Soldaten an der Waffenstillstandslinie gegangen sein. Armenien wiederum bezichtigt aserbaidschanische Scharfschützen der „Ermordung“ eines armenischen Grenzsoldaten. Eriwan sähe keinen Sinn darin, Teilnehmer zum ESC in ein Land zu schicken, das sie als Feinde betrachte.
Die EBU, die im vergangenen Jahr von Aserbaidschan eine Sicherheitsgarantie für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefordert hatte, zeigte sich „enttäuscht“ von diesem Schritt, der „trotz der Bemühungen der EBU und dem aserbaidschanischen Rundfunk, eine reibungslose Teilnahme für die armenische Delegation in den diesjährigen Wettbewerb zu gewährleisten“ erfolgt sei.

Dass die EBU für den Eurovision Song Contest überhaupt eine solche Versicherung aushandeln musste, widerspricht dem vielbeschworenen Geist des Festivals ebenso wie die abgerungene Garantie, alle teilnehmenden Journalistinnen und Journalisten würden auch in Baku ungehinderten Zugang zum Internet bekommen.

Doch hat die EBU bereits Erfahrungen mit Aserbaidschan und Armenien gesammelt, als nach dem Moskauer Song Contest 2009 bekannt wurde, dass Armenien während der Punktevergabe ein Symbol für die Zugehörigkeit Karabachs zu Armenien präsentiert und der aserbaidschanische Sender während des armenischen Beitrags Störsignale ausgestrahlt haben soll. Auch soll die aserbaidschanische Geheimpolizei Menschen verhört haben, die von Aserbaidschan aus für Armenien ihre Televoting-Stimme abgegeben haben.

 

Teilnahme oder Boykott?

Das alles dämpft die Vorfreude auf den diesjährigen Song Contest. Doch etwas ist anders als vor drei Jahren in Moskau. In Deutschland entbrannte in den vergangenen Wochen ein enormes mediales Interesse an dem Song Contest.

Auch innerhalb des Fanclubs wurde diesmal sehr offen über eine Teilnahme in Baku diskutiert. Es gab in der Mitgliederzeitschrift des ECG ein Statement, in dem ein Fan sein Statement für einen Boykott sehr nachvollziehbar erklärte. Er sei bereits einmal in Aserbaidschan gewesen und habe die Situation als extrem unfrei und repressiv erlebt und sei nicht bereit, dieses Land wieder zu bereisen oder mit seiner Teilnahme das dortige Regime zu unterstützen. (Der Prinz-Blog zum ESC hat dieses Statement vollständig veröffentlicht).

Aus unserer tiefsten politische Überzeugung heraus können wir diesem Statement in den meisten Teilen voll zustimmen, haben uns aber dennoch dazu entschieden, vom ESC in Baku für den Vorwärts zu berichten.

Zwar finden auch wir die im obigen Statement erwähnte Haltung der EBU völlig lächerlich, die behauptet, der Song Contest sei eine reine Fernsehveranstaltung, veranstaltet von den beteiligten Fernsehstationen ohne jeglichen politischen Inhalt. Das dem nicht so ist, beweist die Geschichte des ESC und wir haben in den vergangenen drei Jahren in unserem Blog immer wieder über das Verhältnis von Politik und Song Contest berichtet.

Doch die Tatsache, wie sensibel inzwischen hier in Deutschland auf das Thema reagiert wird, wie oft in den vergangenen Wochen die Pressefreiheits- und Menschenrechtssituation in Aserbaidschan in nahezu allen großen Medien thematisiert wurde, lässt uns auf winzige Schritte der Politik der Annäherung hoffen.
Zumindest geht Präsident Alijews Propaganda-Kalkül in diesem Punkt nach hinten los. Mehr Menschen als je zuvor sind inzwischen über Aserbaidschan informiert und für das Thema Menschenrechte sensibilisiert.
 

Oppositionsprojekt ESC

Auch amnesty international plädiert für eine Politik des Teilnehmens und Berichtens: „Mit dem Eurovision Song Contest 2012 besteht nun die Möglichkeit, Licht auf die katastrophale Menschenrechtslage im Land zu werfen und Druck auf Präsident Ilham Alijew auszuüben.“ schreibt ai im Blick auf den ESC.

Die aserbaidschanische Opposition selbst fordert keinen Boykott des Song Contests, sondern Teilnahme, Einmischung und ein wachsames Auge. Eine Chance, die auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning sieht und kürzlich eine Freilassung aller politischen Gefangenen vor dem Song Contest gefordert hat – eine Forderung, die ihn bei der aserbaidschanischen Führung in Misskredit gebracht hat. Leider ist unser Außenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Baku nicht so deutlich geworden – bedauerlch und eine verpatzte Chance!

Sein Dilemma war wohl wie so oft: wirtschaftliche Interessen oder Einsatz für Menschenrechte. Und wirtschaftliche Interessen hat Deutschland natürlich in Boomtown Baku. Eine deutsche Firma baut die Veranstaltungshalle für den ESC und eine deutsche Firma produziert für Aserbaidschan die drei Fernsehshows im Mai: Brainpool, die Produktionsfirma Stefan Raabs!

Das stößt vielen bitter auf und auch in der ARD ist dieses Engagement nicht unumstritten. So ärgerte das Politmagazin kontraste im Februar direkt im Anschluss an die Finalshow von Unser Star für Baku die ESC-Kollegen mit einem plakativen Beitrag über die politischen Verhältnisse im diesjährigen Ausrichterland. Mit der Eurovisions-Fanfare im Hintergrund startete das Magazin direkt und ohne Vorspann mit der Frage ans Vorentscheidungs-Publikum: „Wussten Sie eigentlich, dass es in Aserbaidschan, dem Gastgeberland für den Eurovison Song Contest keine Opposition im Parlament gibt? …“

Die Opposition in Aserbaidschan hat derweil eine Ergänzung zum Song Contest angeboten. Unter dem Titel Sing for Democracy will die Opposition den Song Contest nutzen, um auf die Menschenrechtssituation in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Die Veranstaltung wurde inzwischen sogar genehmigt, was für manche die Hoffnung auf Fortschritte in Baku nährt. Auch eine Demonstration am vergangenen Samstag in Baku war überraschenderweise genehmigt worden, allerdings zu ihrem Ende dann aus fadenscheinigen Gründen (obszöne Geste eines Rappers auf der Bühne) von der Polizei wieder aufgelöst worden, wie spon gestern berichtete.

Ein Schritt vor – zwei zurück oder zwei Schritte vor und einen zurück – das ist hier die Gewissensfrage. Boykott des Song Contests in einem Land wie Aserbaidschan, wie ihn etwa Elmar Kraushaar in der taz vehement forderte oder aber Hoffnung auf kleine Veränderungen? Würde es der aserbaidschanischen Opposition etwa mehr nutzen, wenn die ESC-Fans nicht in Baku, sondern in Düsseldorf die Fahnen schwenkten?

Ganz sicher wäre es aber nützlich, wenn EBU und NDR sich von ihrer strikten unpolitischen Haltung lösen würden. Wäre denn das Tragen eines Emblems für Meinungsfreiheit, wie es der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung angeregt hat, schon eine nach den Statuten des ESC verbotene Handlung? Wir meinen: Nein. Es wäre Ausdruck einer zur Person gehörigen Grundüberzeugung. Noch wurde niemand wegen des Tragens eines Kreuzes oder wegen der Verwendung von Begriffen wie „Gott“ oder „Gebet“ disqualifiziert – warum also nicht auch ein Menschenrecht offen zur Schau stellen?

Wir haben uns für die kleine Hoffnung auf kleine Veränderungen entschieden. Unsere Erfahrungen von Moskau waren zwar genau die, über die auch Kraushaar schreibt, aber wir haben sie vor Ort erlebt und mitbekommen, wie wichtig für die Aktivistinnen und Aktivisten dort unsere Aufmerksamkeit war und dass immerhin mehr Menschen von den Repressalien in Moskau erfahren haben.

Wir glauben nicht, dass der Song Contest die Politik in Aserbaidschan radikal verändern könnte, aber wir glauben, dass Aufklärung und Kennenlernen immer der Auftakt zu einer solchen Entwicklung sein kann.

 

 

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Martin Schmidtner

ist Blogger für kulturelle Events.

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