Kultur

Sinfonie des Urschleims

von ohne Autor · 17. Mai 2013

Wer hätte es gedacht: In den abgehängten Gegenden der ostdeutschen Provinz gibt es noch so etwas wie Sinn. Oder zumindest die Suche danach. Regisseur Mario Schneider nimmt uns mit auf die Reise ins geheimnisvolle Mansfelder Land.

Für den Dokumentarfilm „MansFeld“ begab sich Schneider zurück zu seinen Wurzeln. 1970 wurde er in der Gegend zwischen Harz und Halle geboren. Über Jahrhunderte lebten viele Familien vom Kupferbergbau. Zu den bekanntesten zählt die von Martin Luther. Auch ein aus heutiger Sicht anmutender Brauch prägt die Region seit anno dazumal. Doch im Gegensatz zum Steigerlied erfüllt sein Klang noch heute die Dörfer an den schwarzgrauen Abraumhalden, die wie Berge in der Landschaft ruhen.

Jahr für Jahr vertreiben die Männer und Jungen an Pfingsten den Winter mit lauten Peitschenknallen. Das Schwingen der vier Meter langen Schlagwaffen ist zugleich der Höhepunkt von prozessionsartigen Zusammenkünften mit noch merkwürdigeren Ritualen. Für die Jungen bedeutet dieser Ritus  einen wichtigen Schritt in Richtung Erwachsenenwelt. So will es jedenfalls die Tradition. Drei von ihnen stellt Schneider vor.

Tom, Sebastian und Paul könnten unterschiedlicher kaum sein: Der achtjährige Tom übernimmt den Part des nachdenklichen und für sein Alter recht eloquenten Musterknaben. In dem Haus, das er mit seiner Mutter und deren Lebensgefährtin teilt, wird Zeitung gelesen. Am Arbeitsplatz jener Lebensgefährtin kann Tom zudem in die Welt der Mikroprozessoren hinein schnuppern. Zwecks männlicher Erdung haben ihn die Frauen in den Pfingstverein gesteckt.

Prozessoren und Schweine

Ganz anders Sebastian und Paul: Ersterer erscheint als forscher Liebling der Mädchen in seiner Klasse. Auch seine Eltern versuchen ihm, ein Höchstmaß an Bildung mit auf den Weg zu geben, wenn auch auf ihre Art. Zum Beispiel, indem die Mutter dem 9-Jährigen bei den Schulaufgaben hilft. Das kann auch die Mutter des gleichaltrigen Paul für sich in Anspruch nehmen. Der etwas pummelige Junge hat es nicht nur in der Schule schwer. Auch sonst steht er etwas verloren in der Gegend herum. Etwa, wenn sein Vater mit den Onkeln auf dem heimischen Hof ein Schwein schlachtet. Erst beim Peitschenknallen gewinnt er an Sicherheit und blüht auf.

Mit elegischen Bildern, untermalt von sinfonischen Schnipseln Strawinskis, Verdis und Bachs, führt uns Schneider zurück zu jenem mythischen Urschleim, der hinter dem Phänomen Dorfleben steckt. Immer wieder tauchen die düsteren Schuttberge auf, als würden sie über das Leben zu ihren Füßen wachen oder im nächsten Moment Menschen, Häuser und Getier unter sich begraben. Diese stimmige, zwischen Dramatik und Lakonie schwebende Vermengung von Bild und Ton lässt nicht nur die Handschrift des gelernten Filmkomponisten Schneider erkennen: Sie ist zudem eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Dokumentarfilm.

Exotische Großfamilie


Diese Kunst fasziniert auch in jenen Momenten, wenn sich der Zuschauer fragt, was es eigentlich gerade zu erzählen gibt. Von solchen Momenten gibt es allerdings viel zu viele. Zwar beeindruckt die Nähe, die die Familien der drei Jungen zu geben bereit waren. Ein Jahr lang begleitete sie Schneider in ihrem Alltag in dem strukturschwachen Landstrich. Besonders Pauls Familie böte reichlich Erzählstoff: Nach einem Beinbruch fürchtet der Vater um seinen Job. Zugleich ist mitzuerleben, was es heißt, im heute als exotisch empfundenen Zusammenhang einer Großfamilie aufzuwachsen, in der es trotz der raubeinigen und wortkargen Atmosphäre viel Liebe gibt.

Doch all das wird nur angedeutet oder bleibt dem Einbildungsvermögen des Publikums überlassen. Meiers Regiearbeit offenbart jenes Risiko, das mäandernden Erzählstrukturen innewohnt: Irgendwann gehen dem Zuschauer Lust und Ausdauer aus. Da hilft auch keine noch so präzise Alltagsbeobachtung. Die Chance, das Archaische, das bekanntlich auch von Einbildung lebt, mit den realen Kontexten der Menschen zu kontrastieren, wird weitgehend verschenkt. Das gilt auch für die Innenansicht der Protagonisten. Einzig Tom gibt einiges von sich preis: Zum Beispiel, wie er sich seine Zukunft vorstellt.

Dramaturgisch an Fahrt gewinnt das Ganze in dem Moment, als nach Monaten des Wartens der große Moment naht: Am Pfingsttag werden sie sonst menschenleeren Dorfstraßen von Leben erfüllt: Alles macht sich auf zur gemeinsamen Ritual-Sause. Und Tom, Sebastian und Paul sind schwingenderweise mittendrin. Plötzlich spielen ihre so gegensätzlichen Erfahrungswelten keine Rolle mehr: Alle werden eins. Wie mit großen Kinderaugen lässt uns Schneider daran teilhaben.

Manch einer dürfte staunen, welche bizarren Triebe die sonst so bieder anmutenden Dörfler mobilisieren: Mit aufgemotzten Karren rasen sie in teichgroße Pfützen. Anschließend schlabbern sie das Wasser aus mächtigen Hörnern. Einer der Cross-Piloten hat sich einen Stahlhelm der Wehrmacht aufgesetzt.

Am Ende erfüllen sich eben doch einige Klischees vom Landleben, die Schneider zuvor so behutsam umschifft hat. Doch immerhin sind es Bilder, die bleiben. Ganz nah am Menschen. Zumindest von außen.


Info: „MansFeld“ (Deutschland 2012), ein Film von Mario Schneider, 98 Minuten, ab sechs Jahre. Ab sofort im Kino



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