Kultur

Sind wir schon lebende Tote?

von Vanessa Jasmin Lemke · 18. November 2013

„Alle 108 Stunden gibt es eine Million mehr Menschen auf der Erde. Wie lange dauert es noch, bis sie kollabiert?“ In seinem neuen Buch „Countdown – Hat die Erde eine Zukunft?“ mahnt Alan Weisman, dass wir Menschen unsere Ausbreitung besser würdevoll selbst regulieren sollten bevor die Natur das für uns macht.

Innerhalb von 200 Jahren ist die Menschheit von einer Milliarde auf sieben Milliarden gewachsen. „Menschen sind es nicht gewohnt, sich einzuschränken“, sagte der US-amerikanische Journalist und Autor Alan Weisman bei der Vorstellung seines neuen Buches „Countdown – Hat die Erde eine Zukunft?“ in Berlin. Ginge diese Entwicklung weiter, würden wir in 6000 Jahren das Universum sprengen, Das Buch ist die Fortsetzung seines Bestsellers „Die Welt ohne uns“ aus dem Jahr 2007.

Am Anfang seiner Recherchen standen vier Fragen: Wie viele Menschen können auf dem Planeten Erde leben? Wie viel Natur muss dafür erhalten bleiben? Was sagen alte Schriften wie die Bibel, wie wir uns in Zeiten der Krise verhalten sollen? Wie kann man es verhindern, dass die Anzahl der Menschen die natürlichen Kapazitäten übersteigt?

Weisman reiste in 21 Länder, sprach mit unzähligen Wissenschaftlern, Familien und Menschen und überall stieß er auf das gleiche Problem: es gebe zu viele von uns. 40 Prozent des Planeten werde von den Menschen eingenommen. Die unzähligen anderen Tier- und Pflanzenarten haben im Gegenzug zu wenig Raum.

Erschreckende Plätze

Weismans Reise beginnt im tiefreligiösen Israel. In den 1940er Jahren forderte die Regierung die Bevölkerung dazu auf, viele Kinder zu bekommen. 1947 lebten dort etwa 3,2 Millionen Menschen. Heute sind es bereits 20 Millionen und Mitte des Jahrhunderts werde nach Weismans Recherchen noch eine weitere Million hinzukommen. Besonders jüdisch-orthodoxe Familien, deren Nachkommen weder der Wehrpflicht unterliegen noch arbeiten gehen müssen, würden viele Kinder bekommen. Diese sollen sich intensiv dem Studium der Heiligen Schrift, der Thora, widmen und jüdische Traditionen pflegen. Wächst die Zahl jedoch stetig weiter, werde man bald Versorgungsprobleme haben. Weisman beschreibt, dass israelische Bauunternehmen befürchten, dass der Sand ausginge, obwohl die Hälfte des Landes eine Wüste ist. Viel schwieriger sei aber die weitere Versorgung mit Lebensmitteln und vor allem mit sauberem Trinkwasser. Der Fluss Jordan gleiche einem „stinkendem Graben“. Pilger, die sich darin badeten und das Wasser tranken, bekämen Ausschläge und müssten sich übergeben. Eine sinkende Bevölkerungszahl sei aber nicht vorherzusehen, schließlich gelte nach wie vor: „Gott kümmert sich um alle!“

Ein weiteres Land, das Weisman in seinem Buch beschreibt, ist Pakistan. 2050 werde es das Land mit der viertgrößten Bevölkerung sein. Viele Menschen seien dort bereits jetzt arbeitslos. Das Land sei der aufsteigenden Bevölkerungszahl nicht gewachsen. „Schon jetzt sind viele junge Männer frustriert, verärgert, aggressiv – Pakistan war der erschreckendste Platz auf meiner Reise“, schilderte Alan Weisman. Das Land sei etwa so groß wie Texas, werde aber, wenn sich nichts ändert, am Ende des Jahrhunderts 400 Millionen Einwohner haben.

„Ich will eine Welt mit uns“

„Bis 1914 hatten die Menschen die Wandertaube ausgerottet. Später las ich jedoch, dass die Wandertauben praktisch bereits ausgestorben waren, als es noch eine Million von ihnen gab, weil das Schicksal ihres Habitats und ihrer Nahrungsversorgung bereits besiegelt war. Kann es möglich sein, dass auch meine Spezies zu den lebenden Toten zählt?“ Diese Szene beschreibt Weisman im letzten Kapitel von „Countdown“ und sieht darin eine mögliche Prophezeiung für die Menschen.

Es gebe verschiedene Gründe, warum wir die Erde übervölkerten. Medikamente und Impfungen haben die Lebenserwartung verdoppelt. Noch vor rund 200 Jahren starben viele zwischen 40 und 50. Zudem entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung die Agrarwirtschaft weiter, was die globale Lebensmittelproduktion ansteigen ließ. „Ohne das Harber-Bosch-Verfahren, das die Voraussetzung für die Herstellung von Kunstdünger ist, würde es 40 Prozent weniger Menschen geben“, so Weisman. In vielen Regionen der Erde werde auch kaum Aufklärungsarbeit geleistet und es gebe keine Empfängnisverhütung für Frauen.

Im gesamten Buch macht Alan Weisman an vielen Beispielen seinen Standpunkt klar: „Wir müssen die Nachwuchsraten senken, wenn wir überleben möchten!“ Es ginge nicht nur um uns, sondern auch um andere Tierarten und die Natur, die durch uns zerstört wird. Dafür müsse jeder Mensch kämpfen. Vor allem müsse auch die Politik mehr Verantwortung übernehmen. „Die USA gibt so viel Geld für Kriege und die NSA aus, obwohl sie besser in die Natur und den Rohstoffanbau investieren sollte“, kritisierte Weisman. Auch die Ausbildung von Frauen müsse vor allem in den Entwicklungsländern gefördert werden. Wenn mehr Frauen in die Schule und arbeiten gingen, könnten wir nach Angaben des Autors Mitte des Jahrhunderts schon eine Milliarde weniger sein.

Schon lange widmen sich Forscher und Journalisten den Diskussionen um Bevölkerung und Entwicklung. Viele Kontroversen wurden eröffnet und es gibt viele Stimmen gegen die Thesen, die Alan Weisman vertritt. In seinem Buch „Der überflüssige Mensch“ macht sich der Autor Ilija Trojanow Gedanken über die Entwürdigung des Menschen im Spätkapitalismus. Es werde suggeriert, dass manche Menschen überflüssig seien. Trojanows Werk eröffnet dem Leser einen anderen Zugang zu dem Thema.

Alan Weisman. „Countdown. Hat die Erde eine Zukunft?“. Piper-Verlag, 576 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-492-05431-7

Autor*in
Vanessa Jasmin Lemke

war Praktikantin beim vorwärts (2013).

0 Kommentare
Noch keine Kommentare