Kultur

Sich schreibend befreien

von Dorle Gelbhaar · 27. November 2008
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Die 1950 in Chemnitz geborene Irmtraud Gutschke war 24 Jahre alt und als Redakteurin der Tageszeitung "Neues Deutschland" mit einer internationalen Schriftstellerdelegation in die Sowjetunion unterwegs. als sie Eva Strittmatter 1974 zum ersten Mal begegnete. Auch die 1930 geborene DDR-Autorin reiste in der Delegation mit. Die junge Journalistin fühlte sich der sehr viel älteren Autorin, die in ihren Gedichten weibliche Erfahrungswelten beschrieb, von Anfang an nahe. Seitdem per Du suchte Gutschke die Dichterin aber erst 2008 in dem deren Anwesen in Schulzenhof auf. Eva Strittmatter lebt seit 1953 dort.

Männliche Vorherrschaft und weibliche Selbstbehauptung
Gesehnt hatte sich Eva Strittmatter nicht danach, eine bäuerliche Wirtschaft zu führen. Ihre Wünsche fixierten sich auf eine 4-Zimmer-Wohnung am Strausberger Platz in Berlin, wo sie Honoraraufträge für den Schriftstellerverband erledigte, Literaturkritiken und anderes schrieb. Allein mit einem Kind hätte sie die schöne, große, hundertsieben Mark Miete kostende Wohnung nicht halten können. So zog sie mit dem 18 Jahre älteren Lebensgefährten mit, als dieser - zum Schreiben, wie er zunächst meinte, - unbedingt ins Ländliche wollte. Bald dreifache Mutter, fachlich kompetente Beraterin des berühmten Schriftsteller-Gefährten und Wirtschafterin auf Bauernhof und Pferdegestüt schaffte sie es trotzdem das eigene poetische Schreiben auszubilden. Seit 1954 schon war sie freie Autorin.
In ihrer Generation war es häufig der Mann, der bestimmte. Der ihrige machte da keine Ausnahme Als sie nach Schulzenhof zog, ahnte sie allerdings nicht, dass sie selbst nach seinem Tode - mittlerweile in einem neuen, besseren Haus, doch an den Rollstuhl gefesselt - in Schulzenhof bleiben würde.

Kräfte und Gegenkräfte
In ihrer Neuruppiner Kindheit hatte sie Literatur als Herzenswunsch erfahren, der nicht immer leicht zu stillen war. Im elterlichen Haushalt gab es keine Bücher. Ihr Berliner Onkel, ein Kommunist, schickte welche. Eine Lehrerin meldete das begabte Mädchen entgegen den Vorstellungen des Vaters zur Oberschule an. Eva Braun, wie sie mit Mädchennamen hieß, war es gewohnt, sich auf die stille Art durchzusetzen. Von diesem Harmoniebedürfnis ist im Buch die Rede, von dem Wunsch, Kräfte und Gegenkräfte in Übereinstimmung zu bringen.

Interviewte und die Interviewerin
Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, der Vater gefallen, musste Eva Braun nach dem Krieg nicht lange überlegen, wo sie studieren wollte. In der DDR bekam sie ein Stipendium. Sie fühlte sich erwünscht und sah diese als ihren Staat an.
Wie das Leben der Interviewten ist auch das der Interviewerin durch die DDR geprägt. Nach Slawistik- und Anglistikstudium sowie literaturwissenschaftlicher Promotion arbeitete Irmtraud Gutschke seit 1971 in der ND-Redaktion. Triebkraft ihres Schreibens ist es, den Dingen auf die Spur zu kommen. Eben hierin trifft sie sich mit der Dichterin, die von der befreienden Wirkung des Schreibens zu berichten weiß.

Ideal und Realität
Eva Strittmatter ist 78 Jahre alt und nicht gesund. Sie, die es so nach der Stadt verlangte, bleibt im ländlichen Schulzenhof. Im Gegensatz zu vielen anderen schöpft sie Kraft aus dem Wissen um das Vergangene und um das Gegenwärtige. Und aus Familie und Freundschaft, wie die zu dem 1997 verstorbenen russischen Schriftsteller und ehemaligen Dissidenten Lew Kopelew und zu Hermann Kant. Neben dem Erinnern an die Zensur der "Wundertäter"-Bände ihres Mannes steht bei ihr das Wissen um die Förderung, die sie und ihr Mann in der DDR erfuhren, und um die sozialistischen Ideale, denen sie folgten. Aus der Reibung von Ideal und Realität entstanden ihre Werke.

Lyrik und Welt
Schön ist, dass die Interviewerin den Hintergrund des Entstehens einiger der bekanntesten Gedichte der Lyrikerin erfragt und das entsprechende Gedicht dann gleich mitliefert. So können sich auch Leser und Leserinnen, denen die Gedichte bisher unbekannt waren, ihr persönliches Bild machen. Das gilt ebenso für die Schilderung des Erlebens in drei deutschen Gesellschaften und die daraus erwachsenen Sichten.

Irmtraud Gutschke "Eva Strittmatter. Leib und Leben", Das Neue Berlin 2008, 224 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-360-019406-2

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Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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