Sibirien, das Reich der Träume in schweren Zeiten: Der Invalide Ignat (Wladimir Maschkow) sehnt sich danach, endlich wieder eine Lokomotive steuern zu dürfen. Diese Chance bietet sich kurz
nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Siedlung Kraj. Dort leben vor allem ehemalige sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die die menschenverachtenden Lebensbedingungen in deutscher
Hand überlebt haben. Unter Stalin galten sie als Verräter. Forschungen haben ergeben, dass der sowjetische Geheimdienst um das Jahr 1945 zwei Drittel von 4.4 Millionen Heimkehrern in
Durchgangslagern überprüfte. "Deportiert nach Hause", verschwanden Hunderttausende in Arbeitsbataillonen, Straflagern oder wurden in entlegene Landesteile verbannt.
Den Schikanen der Behörden begegnen die Menschen in Kraj mit Spott und einer brutalen, von Neid durchsetzten Lebensgier. Dort ist der Ex-Frontsoldat Ignat ein Fremdkörper. Die nicht gerade
zimperlichen Taiga-Bewohner beginnen ihn zu mobben. Der Traum wird zum Albtraum. Als der geradlinige Veteran, um sich und den anderen etwas zu beweisen, einer verschollenen Lokomotive nachspürt,
trifft er auf eine Deutsche, die vor Jahren ihren Häschern entkam und sich seitdem auf einer Insel versteckt. Mühsam überwinden sie ihre Feindseligkeit. Kaum, dass Elsa (Anjorka Strechel) auf die
Dorfbewohner trifft, nimmt das Drama seinen Lauf. Während die Gemeinschaft der Ausgestoßenen im Strudel der Gewalt versinkt, finden Ignat und Elsa gemeinsam einen Ausweg aus der verschneiten
Hölle.
Die Flucht, die als Auferstehung endet, steht für den Traum des Regisseurs Alexej Utschitel. "Ich wollte zeigen, dass es keine "Feinde" gibt, dass man jeden Menschen lieben kann", sagte er
am Mittwochabend bei der Vorstellung im
Kino International. Es ist ein schlichter, aber hehrer Anspruch, der von dem holperigen Plot jedoch nur an wenigen Stellen überzeugend eingelöst wird. Wie
sich Ignats Ablehnung der Feindin, die als ahnungslose Waldläuferin ("Was für ein Krieg?") Scheinwelten nachhängt, in mehr als fürsorgliche Nähe verwandelt, wird schablonenhaft erzählt, ohne die
Komplexität der beiden Hauptfiguren zu erfassen.
Plastischer geraten die Eindrücke vom harten Alltag in der sibirischen Einöde, vom sprichwörtlichen Überlebenskampf. Geradezu physisch erfahrbar sind die Strapazen beim Holzfällen und dem
Beheizen der Loks, die wie riesige Ungeheuer durch den Schnee donnern. Doch wenn Utschitel wie ein kleiner Junge von der Arbeit mit schnaufenden Vorkriegsloks schwärmt, fragt man sich erst recht,
warum er keinen reinen Abenteuer- oder Actionfilm gedreht hat. Dass der Russe ein Händchen für temporeichen Bombast hat, beweist er mit ausgiebigen Verfolgungsszenen auf der Schiene. Wohl auch
deshalb wurde das Werk - angeblich eine der teuersten Produktionen der russischen Filmgeschichte - für den
Wettbewerb um den Oscar für den besten ausländischen Film ins Rennen geschickt. Dennoch: Unterm Strich ist "Kraj" nicht mehr als ein technisch
beeindruckendes Mainstream-Drama ohne besonderen Tiefgang.
Dass das Drehbuch 109 Mal umgeschrieben wurde, lässt vermuten, dass der Regisseur erheblichen Einflüsterungen seiner Geldgeber, darunter die Russische Staatsbahn, ausgesetzt war. Ein
selbstbewustes und einfühlsames Kino-Statement für Toleranz aus Russland, wo nicht erst seit den Kaukasus-Kriegen Freund-Feind-Schemata Hochkonjunktur haben, bleibt ein Traum. Das ist die
eigentliche Lektion dieses Films.
Weitere Informationen finden Sie unter
www.russische-filmwoche.de
Am Rande der Welt - Kraj, Russland 2010, 110 Minuten, OmU, Regie: Alexej Utschitel, mit Wladimir Maschkow, Anjorka Strechel, Julia Peresild u.a. Weiterer Aufführungstermin im Rahmen der Russischen Fimwoche: 30. November, 20.30 Uhr, Broadway Kino, Tauentzienstr. 8, Berlin