Kultur

„Seht mich verschwinden“: Ein öffentliches Sterben

Ein Foto genügte, um Isabelle Caro weltweit bekannt zu machen. 2007 posierte sie während der Mailänder Modemesse nackt auf Plakaten. Ihr Anblick ähnelte eher einem Skelett als einem Model.
von ohne Autor · 3. Juli 2015

Zu diesem Zeitpunkt ist die Französin seit Jahren magersüchtig. Der umstrittene Fotograf Oliviero Toscani, der mit Skandalbildern für den Modekonzern Benetton für Aufsehen gesorgt hat, wollte damit ein Zeichen gegen den Schlankheitswahn in der Modebranche setzen – ein Phänomen, das in Zeiten von erfolgreichen Top-Model-Shows im Fernsehen bis heute immer wieder thematisiert wird. Die dürren Arme und Beine zeigen besonders drastisch die fortschreitende Abmagerung und Auszehrung der 27-Jährigen. Die hat ihr trauriges Maximum noch lange nicht erreicht. Drei Jahre später ist die Schauspielerin tot.

Die Öffentlichkeit schaut zu statt zu helfen

Während dieser Zeitspanne hat die US-Filmemacherin Kiki Allgeier sie mit der Kamera begleitet. Ursprünglich als Kurzfilm gedacht, wurde daraus der abendfüllende Dokumentarfilm „Seht mich verschwinden“. Vor allem dank des Videotagebuchs, das Caro führte. Zusammen mit ihren eigenen Aufnahmen und Kindheitsfotos formte sie daraus einen collageartigen Versuch einer Annäherung, der manch einen tieftraurig stimmt und viele Fragen aufwirft. Zum Beispiel, wie es möglich ist, dass das Leben einer jungen Frau so aus dem Ruder läuft, dass sie sich in eine Krankheit flüchtet, die häufig mit Organversagen oder einem Herzinfarkt endet. Aber auch, wie die Öffentlichkeit diese öffentliche Figur ausbeutet, anstatt ihr zu helfen. Und warum Letztere all das nicht nur geschehen lässt, sondern sogar forciert.

Es sind Fragen, die auch die Regisseurin beschäftigten. Ihr ging es nicht um Caros Krankheit, sondern um den Menschen und dessen Lebenstraum hinter der prominenten Kranken, mag beides auch schwer zu trennen sein. Eindeutige Antworten liefert der Film nicht  – zu widersprüchlich war diese Frau, die entgegen der öffentlichen Meinung nie als Model gearbeitet hat und dennoch in der Jury von Frankreichs Top-Model-Show-Ableger saß. Die aus Protest gegen ihre depressive Mutter – als Kind zwang sie ihr eine symbiotische Beziehung auf und sperrte sie zuhause ein – ans Theater geht. Die Erinnerungen ihres Vaters zeigen wiederum, dass Caros Bild von sich und ihrer Vergangenheit nicht immer mit dem der anderen übereinstimmt. Durch diese Unstimmigkeiten ergibt sich ein verstörender Eindruck von einer Familie, die sich über Jahrzehnte dem Abgrund genähert hat.

Koketterie mit dem eigenen Leiden

Wo gesicherte Erkenntnis fehlt, bleibt ein gleichsam faszinierender wie erschreckender Blick auf einen Menschen, der geradewegs dem frühen Tod entgegenschreitet. Natürlich, ohne es sich einzugestehen. Sei es aus Selbstschutz oder bedingt durch die narzisstische Neigung, die Magersüchtigen nachgesagt wird – jedes verlorene Gramm ist in ihren Augen ein kleiner Erfolg. Caro genießt den Rummel um ihre Person. Interviews und Auftritte halten sie ständig auf Achse. Stolz präsentiert sie ihren stets gepackten Koffer in ihrer winzigen Pariser Wohnung. Keine Frage: Diese Frau meint, die Medien im Griff zu haben, wenn sie vor den Gefahren ihres Leidens warnt. Aber stellt sie dieses und ihren ausgemergelten Körper nicht auch permanent zur Schau? Was mag sie getrieben haben, in ihrem letzten Lebensjahr in Luc Bessons Kassenschlager „Adele und das Geheimnis des Pharao“ ausgerechnet eine Mumie zu spielen? Andererseits lässt sie einen die ganze Tragik ihres Daseins spüren, wenn sie nach einer Lesung aus ihrer Autobiografie eine ebenfalls magersüchtige Besucherin anhält, ihre Krankheit nicht auf die leichte Schippe zu nehmen, nach dem Motto: Irgendwann wird der Körper schon nachgeben. Ein Moment der ungeschminkten Wahrheit. Selbst wenn Caro sogar kurz vor ihrem Tod, als Augen und Zähne noch stärker hervorstehen, eine unbändige Energie ausstrahlt.

Als Zuschauer kann man sich diesem mitunter bloßen, in Großaufnahmen dokumentierten Schrecken, den dieses auch durch eine Schönheitsoperation entstellte Gesicht ausstrahlt, nicht entziehen. Auch, weil Allgeier den Spagat meistert, ihrer Protagonistin mit der Kamera sehr nahe zu kommen, ohne sie zum Schauobjekt zu machen. Zugleich gelingt es ihr, auch die anmutige Seite dieses geschundenen Körpers einzufangen. Und doch ist dieser Abgang auf Raten erschütternd und entlarvend: wie ein brutales Symbol für pervertierte Schönheitsideale, die uns tagaus tagein umgeben.

Eine Intention, die auch Toscani mit seinen Plakaten verfolgt haben will. Allgeier geht noch einen Schritt weiter. Sie hinterfragt, „was mit einem Menschen passiert, dass er schließlich glaubt, über eigene Grenzen gehen zu müssen, um Kontrolle erlangen zu können“ und verknüpft das Ganze mit einem Appell: „Ich hoffe, dass wir beginnen, den Narzissmus um uns herum neu zu bewerten und dass wir zuhören, wenn jemand darum bittet.“ Ihre Bilder sind Appell genug.

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