Sehnsucht in Trümmern
Es hätte eine wunderbare Groteske werden können: Ein international isoliertes Armenhaus am Schwarzen Meer träumt den Traum von einer sportlichen Großveranstaltung. Und am Ende gibt es nicht einmal Strom. In der Tat waren die polnischen Filmemacher Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski nach Abchasien gereist, um herauszufinden, welche Auswirkungen die Weltmeisterschaft im Domino auf den Alltag in der 250.000-Seelen Republik hat. Doch „Domino Effekt“ reicht viel tiefer.
Bei den Dreharbeiten lernen sie Abchasiens Sportminister kennen. Mit unerschütterlichem Optimismus treibt Rafael Ampar das Domino-Turnier voran. Dabei lernen sie dessen russische Frau Natascha kennen. Damit beginnt die eigentliche Geschichte.
Abchasien: Das Land der Sehnsucht, in dem das Leben Anfang der 1990er-Jahre zum Albtraum wurde. Damals sagte sich die Region von Georgien los. Das zu Sowjetzeiten heiß begehrte Feriengebiet mit satten Wogen an Traumstränden, mondänen Promenaden und dramatischen Sonnenuntergängen versank im Chaos. Russland ist eines von vier Ländern, die Abchasien nach dem Georgien-Konflikt vor sieben Jahren diplomatisch anerkannt haben. Geblieben ist das Gefühl vieler Abchasen, zwischen Tiflis und Moskau aufgerieben zu werden, anstatt einen selbstbestimmten Weg zu gehen.
Denken an morgen
Das ist auch im Alltag von Natascha und Rafael zu spüren. Über allem, was die beiden erleben, schwebt die Frage: Wie denkt eine Gesellschaft an die Zukunft, wenn sie aufgrund der wirtschaftlichen Misere und der geopolitischen Lage als eigenständiges Subjekt kaum eine haben kann? Offenbar, so legen viele Beispiele nahe, ist das Morgen so diffus und unendlich weit weg, dass sich die Menschen an die Vergangenheit klammern. Was aber keineswegs mit einer bedingungslosen Liebe zu Russland, das Abchasien ökonomisch und militärisch dominiert, gleichzusetzen ist.
Davon kann Natascha ein Lied singen: Obwohl sie dank Rafael über beste Kontakte verfügen sollte, bekommt die Opernsängerin mit zwei Uni-Diplomen beruflich keinen Fuß auf den Boden. So bleibt ihr nur, im Winter in einem ungeheizten Bau Gesangsunterricht zu geben. Bis der Strom wieder ausfällt. „Unsere Republik muss sich noch entwickeln“, sagt sie sich und den eifrigen Mädchen. Auch in ihrer angeheirateten Familie erfährt sie Ablehnung.
Dieser Frust muss raus: Tag für Tag kommt es zwischen den Eheleuten zum Clash der Stimmungen und Klischees: Russland gegen Abchasien. Nataschas Erziehung zu Fleiß und Ehrlichkeit und der, wie sie beklagt, Hang zu Betrug und Müßiggang um sie herum. Fatalismus kontra Gleichmut. Bis die Hochschwangere die Notbremse zieht. Ungezügelt wie in einem Spielfilm, teilt der Zuschauer Momente des Glücks wie der Wut. Und die Sehnsucht nach einem besseren Leben.
Marode Pracht
Es ist die Offenheit, mit der das Paar nach den zahllosen Besuchen der Filmemacher vor der Kamera beeindruckt. Zumal die Kulisse der Hauptstadt Suchumi immer wieder in Erinnerung ruft, innerhalb welchen Rahmens sich die manchmal auch profanen Geplänkel zwischen Natascha und Rafael abspielen. Zum Beispiel ein auf Grund gelaufener Frachter. In unmittelbarer Nähe des Wracks plantschen die Menschen im Wasser. In der gleichen Kamerafahrt fällt der Blick auf eine vergammelte Seebrücke. Später dann die maroden Fassaden der Hotelpaläste: Zwischen etlichen leeren Fensterhöhlen klaffen Einschusslöcher vergangener Waffengänge. Ein greller Mix aus Postkarten-Beschaulichkeit und Verfall.
Einer dieser selbst im Niedergang majestätischen Bauten taucht in Archivaufnahmen als flammendes Inferno wieder auf, als sich Rafael an seine Vergangenheit als Soldat im Unabhängigkeitskrieg von 1993 erinnert. Nur zögerlich offenbart sich das dunkle Geheimnis, das Rafael bis heute zusetzt. So erzählt die Geschichte einer Liebe auch von der Tragödie eines vergessenen Landstrichs, in dem zugleich etliche Interessen von Ost und West zusammenlaufen.
„Es gibt einen Ort auf Erden, der ein Paradies sein könnte, doch dort gibt es mehr Feldminen als Menschen“, schrieb einst der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski über Abchasien. Ein Land, das, wie auch Georgien, unter einem lähmenden, weil eingefrorenen Konflikt leidet . Also unter jenem Szenario, das der Kreml-Führung auch hinsichtlich der umkämpften Ost-Ukraine als eigentliches Ziel unterstellt wird. Was das bedeuten kann, führt „Domino Effekt“ mal beklemmend, mal schwarzhumorig vor.
Info: Domino Effekt (Polen / Deutschland 2014), ein Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski, OmU, 76 Minuten.
Ab sofort im Kino