Kultur

„Seefeuer“: Leben und Sterben auf Lampedusa

Zuhause das Abendessen genießen, während draußen Flüchtlinge ertrinken? Der Dokumentarfilm „Seefeuer“ zeigt ein provokantes Bild vom Alltag auf Lampedusa.
von ohne Autor · 29. Juli 2016
Für Fischersohn Samuele sind die Flüchtlinge weit weg
Für Fischersohn Samuele sind die Flüchtlinge weit weg

Für die Flüchtlingsbewegung nach Europa ist das kleine Eiland zwischen Sizilien und Nordafrika der Symbolort schlechthin. In den letzten 20 Jahren haben rund 400.000 Migranten die italienische Insel erreicht, die gerade einmal 20 Quadratkilometer groß ist. Etwa 15.000 Menschen kamen bei der Überfahrt in klapprigen und überfüllten Kähnen ums Leben.

Intensiv mit der Situation von Flüchtlingen befasst

Auch wenn sich die Lage inzwischen beruhigt hat: Jeder hat die chaotischen Bilder im Kopf. Auch der renommierte italienische Regisseur Gianfranco Rosi. Eher zufällig kam er dazu, einen Dokumentarfilm über Lampedusa zu drehen. Dort wuchs in ihm die Idee, ein anderes Bild von dem Ort einzufangen, als es nicht zuletzt aus den Medien bekannt ist. Um damit auch einen Gegenpol zur Katastrophenstimmung zu bilden.

Rund 18 Monate verbrachte der 52-Jährige dort in den Jahren 2014 und 2015. Das ermöglichte es ihm, sich intensiv mit der Situation der Flüchtlinge befassen, die zeitweise fast tagtäglich dort landeten und in eine hoffnungslos überfüllte Erstaufnahmehinrichtung kamen, von wo aus sie auf das italienische Festland gebracht wurden. Zudem tauchte er tief in den Lebensrhythmus der Einheimischen ein. „Meine erste Begegnung mit der Insel war bestimmt von einem Gefühl von Leere, von Gespanntheit auf etwas, das weit weg geschah, von dem die Leute aber wussten, dass es sie wieder erreichen würde“, sagte er in einem Interview. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Zuwanderer auf der Insel, das Hotspot-Center für Flüchtlinge war geschlossen.

Flüchtlingselend und Alltag

So gelangte er zu einer Perspektive, die mit jenen Bildern im Kopf eigentlich schwer zu vereinbaren ist: das Nebeneinander von Flüchtlingselend und profanem Alltag. Zuhause lauschen die Inselbewohner alten Schlagern im Radio, essen seelenruhig ihre Spagetti. Draußen auf See kämpfen Menschen um ihr Leben. Rosi stellt diese beiden Sphären permanent gegeneinander. Und das in einer Weise, die weder die Geflüchteten noch die Lampedusaner vorführt. Eine Methode, die provokant erscheinen mag, aber dennoch tief berührt. Manch einem öffnet sie vielleicht sogar die Augen für die brutalen Gegensätze, die sich mitunter in einem überschaubaren geografischen Raum auftun. Aber auch für das Mitgefühl, das Bessergestellte für Davongekommene mitunter aufbringen. Der Jury der diesjährigen Berlinale war das ein Goldener Bär wert.

Ungewöhnlich ist auch die Wahl des Protagonisten: Samuele Pucillo ist mit allen möglichen Dingen beschäftigt, nur nicht mit Flüchtlingen. Lieber lernt der Sohn eines Fischers rudern oder vergnügt sich mit seiner Schleuder. In seiner gelangweilten Unbedarftheit bildet der Zwölfjährige einen krassen Gegensatz zu den ausgelaugten und traumatisierten Migranten, an die uns Rosi behutsam heranführt. Noch so eine Provokation, die eigentlich keine ist, weil Rosi die Menschen nur zeigt, wie sie sind. Bei den vorwiegend aus Afrika stammenden Neuankömmlingen bleibt der Fokus auf das Individuum, wohl auch den Umständen geschuldet, eher lückenhaft. Dennoch sensibilisiert der Film für ihre Leidens- und Erfahrungswelten.

Szenen, die einen fassungslos machen

So wie sich der allein auf sich gestellte Regisseur während des Drehs nicht schonte – er verbrachte 40 Tag auf einem Schiff der Küstenwache, das Flüchtlinge ortet und aufnimmt – , verlangt er auch seinem Publikum einiges ab: Auch der Tod ist Teil dieser Geschichte. In Szenen, die einen fassungslos machen. Wie schon in seiner Dokumentation über das Leben entlang dem Autobahnring von Rom ( „Sacro GRA – Das andere Rom“), die ihm in Venedig den Goldenen Löwen einbrachte, ist es Rosi erneut gelungen, auf relativ kleiner Grundfläche globale Krisen und Phänomene zu verorten. Mit einer Erzählweise, die gerade durch das, was nicht gezeigt wird, erschüttert.

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