Kultur

Schweigen und angeln

von Die Redaktion · 22. Februar 2006

Unwahrscheinlicherweise galt das sogar für den Sohn. Mit seinen faszinierenden "Andenken" ist Lars "zu jenem Teil der Wirklichkeit vorgestoßen, von der nur ich erzählen kann". Mit einer Offenheit, die immer noch zurückhaltend bleibt, bemerkt schon der Heranwachsende die "Fassade vor der entkernten, kaum mehr sanierbaren und wohl schwerlich zu rettenden Ehe".

Das war nicht der Grund für den Zweifel des Sohnes, dass es zu Hause irgend jemandem gut ging. Es lag auch nicht nur an der lebenslangen Anstrengung, die den Vater maulfaul machte und erholsame Familienatmosphäre nicht suchen ließ. Im Laufe der Jahre wurden seine Zimmer von Berlin bis Bonn immer bescheidener. Die wachsende Enge seiner persönlichen Räumlichkeiten scheint dem Sohn ein "Zerrbild von Intimität". Nach der prächtigen Unterbringung auf Reisen warten seine Kämmerchen. "Eine seltsame Stimmung ging von diesem Gegensatz aus. Absurditäten drückten seinem Leben ihren Stempel auf, der auf alle abfärbte, die damit zu tun hatten, weil über nichts gesprochen wurde."

Hat die Kraft, die Partei und Land ihm abverlangten, Europa bewegt und friedlicher gemacht und die Sozialistische Internationale global geweitet hat, für seine unmittelbare Umgebung nicht mehr ausgereicht? Lars sieht diesen Mangel an Interesse für die nächste Umgebung als "unterentwickelte Phantasie, ebenso eine zwangsläufige Folge von Arroganz". Der Vater "glaubte sich erlauben zu dürfen, durch seinen Schleier auch die anderen nicht richtig ins Auge zu fassen".

Jedenfalls hat auch der Sohn in spröder Distanz das eigene Ich gewahrt und den eigenen Weg als Künstler, fern von der Welt des Vaters, gewählt und behauptet. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hat der Vater von ihm Beiträge zu Reden erbeten, wobei sich beide "bei Bedarf schon mal die Meinung sagten". In schweigender Nähe gingen beide angeln.

Es ist hier nicht möglich, der Nuanciertheit gerecht zu werden, mit der Lars den Vater beobachtet: scharf, verständnisvoll, unnachsichtig. Seine Miniaturen gewinnen zuweilen literarische Qualität, wenn sie Gabelungen wie Guillaume oder Wehner beschreiben oder der Vater den Sohn zu sich bat, "vielleicht halb zwei Uhr nachts", und ihm das Blatt gab, auf dem er am Morgen dem Bundespräsidenten den Rücktritt erklärte.

Ihr unsichtbarer Pakt war nach jahrelanger Funkstille längst wieder hergestellt und ermöglichte Besuche während der Krankheit. Bewusst, fast könnte man sagen "wie es sich gehört", nahmen beide am Tag vor dem Tod Abschied voneinander.

Lars Brandt ist das Kunst-Stück gelungen, das kennen muss, wer dem Phänomen Willy Brandt näher kommen will. Am Schluss seines Buches fragt der Autor, wenn er auf den Vater angesprochen wird: "Was sage ich dann?"

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